Ostfriesengrab
Falsches zu tun. Es griff nach ihr wie der ostfriesische Wind, der wieder unter ihren Rock fuhr und sie dazu brachte, die Schenkel fest zusammenzupressen und den Saum mit den Händen an die Beine zu drücken.
Dann erschien ihr das eigene Verhalten plötzlich schrecklich unprofessionell. Vielleicht war er ja schon an Bord? Vielleicht beobachtete er sie bereits? Das war ihr schon zweimal passiert. Einmal hatte ein Kunde sie vorher fast eine Stunde lang in einem Café betrachtet. Später sagte er, er habe nur ihr natürliches Verhalten studieren wollen, bevor er sie in einer künstlichen Welt fotografierte. Er war nett. Ein kluger, freundlicher Mann. Sie erinnerte sich genau an ihn.
Beim zweiten Mal waren es zwei Freunde. Es war eine Art Wettstreit zwischen ihnen gewesen, wer das schönste Bild von ihr machen würde. Sie war das Objekt ihrer Begierden und gleichzeitig die Schiedsrichterin. Der eine – war sein Name nicht Michael gewesen? – fotografierte sie in selbstgebauten phantastischen Kulissen, der andere wollte sie im Alltag ablichten. Beim Bügeln, beim Zähneputzen, beim Aufwachen. Fast eine Woche lang nistete er sich bei ihr ein. Sie lebten wie Mann und Frau zusammen, nur dass sie eben keinen Sex hatten. Er beobachtete
sie nur mit der Kamera. Nach einer Weile war es für sie, als ob er gar nicht existent wäre. Er machte das eindeutig beste Bild von ihr. Sie kniete vor der Waschmaschine und baute das verstopfte Flusensieb aus. Keiner war ihr je mit der Kamera so nah gekommen, keiner hatte intimere Bilder gemacht, obwohl sie auf keinem nackt war und auf keinem gestylt.
Jetzt erinnerte sie sich wieder an den Namen des Mannes. Sie hatte ihn immer nur »meinen Gentleman« genannt, aber er hieß Peter Kron. Als er weg war, hatte sie ihn richtig vermisst. Plötzlich wurden all diese alltäglichen Handlungen, denen der Blick seiner Kamera die Aura des Besonderen gegeben hatte, so banal. Sie verlor die Lust, sich die Zähne zu putzen. Nie war Bügeln langweiliger gewesen als jetzt ohne seine Aufmerksamkeit. Seine Anwesenheit hatte alles verändert. Zunächst war ihr vieles lächerlich erschienen, als sei er nur ein Spinner, dann aber begann seine Kamera die Dinge, die sie tat, zu adeln. Manchmal hatte sie ihn angeschrien: »Nein! Jetzt nicht! Ich will jetzt nicht!« Aber genau dann entstanden die besten Bilder. Wenn sie schlaftrunken den ersten Kaffee verschüttete.
Peter Kron. Wenn er sie gefragt hätte, heute war sie sich sicher, sie hätte ihn damals geheiratet. Damals, als sie Jonas noch nicht kannte. Aber Peter Kron hatte sie nie gefragt. Er ging, als er den Wettbewerb gewonnen hatte, und ließ nie wieder von sich hören. Seine Fotos besaß sie noch immer. Jonas hatte sie nie gesehen. Wie hätte sie ihm ihre Entstehung erklären sollen? Die Bilder waren so heiß, sie bewahrte sie nicht einmal in ihrer Wohnung auf, sondern bei ihrer Mutter in Cuxhaven in einem verschlossenen Briefumschlag. Hundertmal hatte sie daran gedacht, die Fotos einfach wegzuwerfen, und es doch nie übers Herz gebracht.
Sie atmete tief durch und gewann langsam ihre alte Professionalität zurück. Ja, sie war ein Fotomodell. Sie wollte die Phantasie der Männer beflügeln. Sie wollte gesehen werden, begehrt und beachtet, doch niemand sollte sie anfassen. Nur ihr
Jonas durfte sie berühren. Nur er. Sie konnte ihren Job machen und ihm treu sein. Auch wenn er das vielleicht nicht verstehen würde. So war es für sie. So und nicht anders.
Sie stand auf und reckte sich. Ja, sollten sie nur schauen, der Dicke und der mit den gefärbten Haaren. Sogar der junge Mann blicke von seinem Handy hoch, als sie im Wind den Rücken aufrichtete, die Brust rausdrückte und sich nicht darum kümmerte, was der Wind mit ihrem Rock machte.
Vielleicht, dachte sie, hat der junge Typ mit dem Handy mich ja in Wirklichkeit die ganze Zeit gefilmt. Sie atmete die Meerluft ein. Eines Tages, lachte eine alt bekannte Stimme in ihr, eines Tages komme ich ganz groß raus. Alle werden dann mein Gesicht sehen. Es wird ein Foto von mir geben, das um die Welt geht. Eines, das mich unsterblich macht oder wenigstens für eine Weile berühmt.
Sie wusste nicht, wie recht sie damit hatte und wie grausam die ganze Wahrheit war.
Ann Kathrin Klaasen stieg in ihren froschgrünen Twingo. Sie log sich alles positiv um. Sie nannte das »die überflutenden Probleme eindeichen«.
Sie war trotz allem einen entscheidenden Schritt weitergekommen. Sie hatte einen Namen: Volker
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