Ostfriesengrab
Tollerei? Das ist das Gleiche wie vor dem Kölner Landgericht. Ich war schon dreimal dort geladen. Wie kann der Staat ein Landgericht bauen, in dem täglich zig Prozesse laufen und nicht mal genug Parkplätze für die Richter und Staatsanwälte zur Verfügung stellen? Geschweige denn für all die Menschen, die per Ladung gezwungen sind, dahin zu kommen?«
»Es gibt auch öffentliche Verkehrsmittel«, verteidigte der Mann sich und kaute auf der Unterlippe herum.
Ann Kathrin registrierte, dass sie ihn einschüchterte. »Na klar«, rief sie, »öffentliche Verkehrsmittel«, und zeigte mit den Händen auf die Paffrather Straße. »Wo denn? Soll jemand sein krankes Kind mit der nicht vorhandenen Straßenbahn ins Krankenhaus bringen?« Ann Kathrin fuchtelte mit den Händen herum. Sie ärgerte sich über ihre eigene Aufregung. Sie spürte, dass sie dem Mann jetzt Unrecht tat und er für irgendetwas büßen musste, das er nicht verbockt hatte. Aber sie musste jetzt irgendwohin mit ihrem Frust, und da kam er ihr gerade recht.
»Vor dem Kölner Landgericht«, keifte sie, »ist es noch viel schlimmer! Soll eine vergewaltigte Frau, die sich sowieso schämt und Angst hat, gleich auf das Schwein zu treffen, das ihr das alles angetan hat, mit dem Bus zum Gericht fahren? Soll sie ihr verheultes Gesicht in die Menge halten? Am besten sitzt sie noch gemeinsam mit den Freunden des Täters auf der Bank! Kann man ihr nicht wenigstens so viel Schutz gewähren, dass sie in einem Auto kommen kann und einen ordentlichen Parkplatz hat? Nicht diesen Truppenübungsplatz?«
»W … wir wir sind hier nicht am Kölner Landgericht. Da
bin ich auch nicht zuständig. Dies hier ist das Reinhard-Nieter-Krankenhaus.«
»Das macht die Sache auch nicht besser!«, schrie Ann Kathrin, warf die Haare nach hinten, knallte ihre Autotür zu und ging die letzten paar Schritte zu Fuß.
»Das wird teuer!«, rief der Mann vom Ordnungsamt hinter ihr her. »Ich lasse Sie abschleppen, wenn Sie hier stehen bleiben!«
»Tun Sie sich keinen Zwang an!«, zischte Ann Kathrin und zeigte ihm den Stinkefinger.
Vor der zentralen Notaufnahme standen drei Raucher in Jogginganzügen. Eine frisch operierte Frau im blauweißen Bademantel gesellte sich zu ihnen. Sie trug einen Plastikbeutel, der über einen Schlauch mit ihrem Körper verbunden war, kokett wie ein Handtäschchen. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte Ann Kathrin, dass der Beutel sich mit Blut füllte.
In der großen Drehtür zur Eingangshalle war eine Art Schaufenster, in der zwei große Orchideen wuchsen. Ann Kathrin konzentrierte ihren Blick darauf. Sie hoffte, die Orchideen würden sie beruhigen.
In der Halle irritierte sie ein Geräusch. Es war ein Geblubbere, als ob sie sich in einem U-Boot und einem Raumschiff befände. Ihr Blick fiel auf ein Bullauge, das in die Wand neben den Fahrstühlen eingelassen war. Bunte virtuelle Fische schwammen darin herum, und das Blubbern der Luftbläschen sollte wohl entspannend auf die Besucher wirken.
Dann fuhr sie mit dem Fahrstuhl hoch in die zweite Etage zur Station vierzehn. Im Fahrstuhl fuhr sie sich zweimal mit dem Finger unter der Nase lang und atmete tief durch. Sie sprach die erste Schwester an, die sie traf. Sie war höchstens zwanzig, kleinwüchsig und erschrak, als Ann Kathrin sie festhielt. Sie wirkte wie eine Studentin, die während der Prüfungsklausur bei
einem Täuschungsversuch erwischt worden war. Das schlechte Gewissen stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Ann Kathrin stellte sich nicht als Kommissarin vor. Sie fragte nur, ob sie Schwester Bogdanski sprechen könnte.
»Ich weiß nicht, ob die Dienst hat. Da müssen Sie einmal vorne fragen.« Die Schwester zeigte in den Flur.
Ann Kathrin lief hin. Die kleine Krankenschwester huschte durch die Tür in den Kreißsaal.
Mitten im Flur war eine Theke, daneben standen diverse Schnittblumen, die aus den Krankenzimmern getragen worden waren, weil sie dort zu sehr dufteten. Auf einer kleinen Anrichte warteten Tee und Kaffee, darüber ein kleines handgemaltes Schild:
Nur für unsere Patienten, nicht für Besucher!
Trotzdem bot die dünne schwarzhaarige Schwester mit mecklenburg-vorpommerischem Dialekt Ann Kathrin sofort einen Kaffee an, als diese nach Schwester Bogdanski fragte.
Ann Kathrin hatte Glück. Schwester Bogdanski kam aus Zimmer 210 . Vielleicht war es der Blick, mit dem Ann Kathrin sie musterte, jedenfalls wusste sie sofort, dass sie gemeint war, und sah Ann Kathrin unsicher an. Sie reichte
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