OstfriesenKiller
warst. Du hast sogar darauf geschlafen.«
Mist, dachte Ann Kathrin. Sie muss es gemerkt haben.
Als Ann Kathrin sich nicht rührte, fragte Sylvia: »Schämst du dich, dich auszuziehen?«
»Natürlich schäme ich mich. Ich stehe hier im Regen vor dem Pferdestall.«
»Ich hab dich schon mal nackt gesehen«, konterte Sylvia.
Pia suchte einen Ausweg. Während die beiden Frauen miteinander redeten, konnte sich für sie eine Möglichkeit ergeben. Vorsichtig schob sie sich an der Bretterwand entlang zu Fabella, die nah am Ausgang stand.
Diese verrückte Kuh würde ohne Probleme auf mich schießen, dachte Pia. Aber garantiert nicht auf das Pferd. Wenn ich im Schutz des Pferdes rauskomme, bin ich gerettet. Ich könnte dabei das Licht ausknipsen, dann stehen sie im Dunkeln da.
Pia fasste wieder Mut. Endlich hatte sie einen Plan.
»Ich weiß«, sagte Ann Kathrin. »Als ich im Garten stand. Mein Mann hatte mich gerade verlassen. Mir war hundeelend. Da hast du mich beobachtet. Warum hast du mich damals nicht umgebracht?«
Die Frage machte Sylvia nervös und erhöhte den Druck in ihrem Kopf immens. »Aber warum hätte ich dich umbringen sollen«, keifte sie, »warum das denn? Ich denk, du bist meine Freundin?!«
»Warum zielst du dann nachts mit einem Bogen auf mich?«
»Das hab ich überhaupt nicht. Ich hatte Paul, das Schwein, erledigt. Und ich wollte nicht allein sein. Auf dem Rückweg bin ich bei dir vorbeigefahren. Ich wollte dir einfach nur nah sein. Ich hab nie auf dich gezielt. Wie kommst du denn darauf?«
Völlig durchnässt stand Ann Kathrin mit erhobenen Armen vor dem Pferdestall und holte sich die Szene ins Gedächtnis zurück.
Natürlich, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen, dachte sie. Nur, weil ich die Feder gefunden habe, muss der Schütze ja nicht auf mich gezielt haben. Sie war in Not. Sie wusste nicht wohin mit sich selbst. Und gleichzeitig hat sie sich nicht getraut, mich in der Situation zu stören. Sie hat mich beobachtet, und der Wind hat ihr eine Feder aus dem Köcher gerissen.
»Du musst mich doch verstehen«, rief Sylvia. »Deinen Papa haben sie doch auch umgebracht!«
Ann Kathrin zögerte nicht länger. Sie zog sich bis auf die Unterwäsche aus, wickelte ihre Sachen zu einem Bündel zusammen und rief: »Ich werfe jetzt meine Sachen in den Schuppen!«
Auf dem Dach des Bauernhauses lag nur noch der Scharfschütze Nummer Zwei. Der erste haderte unten mit der Situation, mit seinem Beruf, ja, mit seinem Leben. Er war stolz auf sich, und er hasste sich gleichzeitig für das, was er nicht getan hatte. Er fürchtete die Konsequenzen und freute sich darauf, es zu erzählen. Er wusste noch nicht, ob er in dieser Nacht zu einem Helden geworden war oder zu einem Versager.
Der zweite Scharfschütze meldete von oben: »Eure Kommissarin hat sich gerade ausgezogen und geht jetzt in den Stall.«
Ubbo Heide hielt sich die Hände vors Gesicht. Der Staatsanwalt nahm das Nachtsichtgerät. Als er aber endlich in der richtigen Position war, konnte er Ann Kathrin Klaasen schon nicht mehr sehen.
»Wenn du sie erschießt, bist du auch nicht besser als die Terroristen, Sylvia.«
Sylvia schüttelte den Kopf und protestierte. »Nein, das stimmt nicht. Das ist nicht wahr. Was erzählst du da? Und du willst meine Freundin sein? Ich mach das nur, um Menschen zu retten.«
»Mir ist ein bisschen kalt«, sagte Ann Kathrin. »Kann ich eine Decke haben?«
Zunächst wollte Sylvia sofort eine Pferdedecke aus dem Regal an der Wand nehmen, aber dann fürchtete sie, dass das Ganze eine Falle war.
»Hol sie dir selbst«, sagte sie und zeigte mit dem Gewehrlauf zum Regal.
Ann Kathrin ging langsam. Sie machte nur vorsichtige Bewegungen, die nicht missdeutet werden konnten. Sie legte sich die raue Decke über die Schultern. Sie roch stark nach Pferd. Ein Schauer lief über Ann Kathrins Rücken. Dann sprach sie so langsam und deutlich wie möglich: »Die Terroristen haben auch Gründe für das, was sie tun. Sie glauben, sie seien im Recht, genauso wie du. Manche tun es aus Liebe. Andere aus Hass. Für ihre Religion. Aber man darf keine Menschen töten, schuldig oder unschuldig. Das dürfen wir uns nicht anmaßen zu entscheiden. So einfach ist das. Wer Menschen tötet, ist auf der falschen Seite, Sylvia.«
Sylvia riss die Waffe hoch. Sie zielte schon lange nicht mehr auf Pia, sie schien Pia ganz vergessen zu haben. Sylvia fuchtelte so wild mit der Waffe herum, dass Ann Kathrin Klaasen fürchtete, eine Kugel könnte
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