OstfriesenKiller
Lieblingsstute. Wir waren beide dabei, als sie geboren wurde. Ein ganz kleines Fohlen. Mein Papa war auch bei meiner Geburt dabei.«
Pia schluchzte.
»Mein Papa hat mich rausgezogen«, sagte Sylvia, »genauso, wie er damals Fabella rausgezogen hat. Mein Papa konnte so was. Mein Papa war ein guter Mann.«
Pia versuchte wieder, eine Brücke zu Sylvia zu bauen. Mit zitternder Stimme sagt sie: »Mein Vater ist auch ein lieber Mann. Mein Vater lebt noch. Er findet es gut, dass ich ein Kind kriege. Obwohl ich noch so jung bin. Andere Väter hätten bestimmt Theater gemacht. Meine Ausbildung ist ja noch nicht abgeschlossen. Aber er unterstützt mich.«
Der Stall war nach vorne offen. Die Pferde blickten auf die Weide und den Deich.
Sylvia sah in die gleiche Richtung. Sie wusste nicht genau, warum sie Pia hierher gebracht hatte. Vielleicht würde sie gleich auf Fabella davonreiten, nachdem sie ihre Arbeit erledigt hatte. Cowboys ritten in Filmen manchmal der untergehenden Sonne entgegen, nachdem sie die Stadt von den Bösewichtern befreit hatten. Sie mochte diese Momente, wo der Held abzog. Sie heulte dann jedes Mal im Kino.
Aber die Sonne war schon untergegangen. Und der anhaltende Regen machte einen langen Ausritt ungemütlich. Sie wollte weg von hier. Aber wohin?
Sie setzte sich die alte Jockeykappe auf, die an einem rostigen Nagel an der Wand hing. Es war die Kappe ihres Vaters.
»Wenn man immer am Deich entlangreitet, was meinst du, wo man dann landet?«
In Holland, wollte Pia sagen, doch dann überlegte sie es sich und schlug vor: »Ich weiß auch nicht. Aber wir können es ja gemeinsam herausfinden.«
Pia hatte als Kind Reitstunden gehabt. Bis zum Alter von 13 Jahren hatte es für sie nichts Wichtigeres gegeben als Pferde, Sättel und Ausritte. Wenn sie nicht im Stall war, um zu helfen, dann lag sie zu Hause auf ihrem Bett und las Pferdebücher. Ihr Vater hatte sie oft als Pferdenärrin bezeichnet oder als pferdeverrückt. Für sie war das kein Schimpfwort, sondern eine Auszeichnung.
Drüben beim alten Friesenhaus bekamen sie scheinbar Besuch. Ein Pkw hielt an, aber so dicht beim Haus, dass Sylvia nicht erkennen konnte, wie viele Personen ausstiegen.
Die Pferde wurden unruhig. Sie witterten etwas. Sylvia wollte die schummrige Stallbeleuchtung ausmachen, doch Pia bettelte: »Nicht. Bitte nicht. Ich hab solche Angst im Dunkeln.«
Zwei Scharfschützen gingen auf dem Dach des Friesenhauses in Stellung. Im Fadenkreuz der Zielfernrohre erschien eine schwangere junge Frau, die von einem Gewehrlauf bedroht wurde. Der Schütze war halb vom Pferd verdeckt.
Unten standen Scherer, Ubbo Heide, Weller und Ann Kathrin Klaasen. Über sein Headset meldete sich der erste Scharfschütze: »Ich hab sie. Gutes Sichtfeld. Eine schwangere Frau und ein Bewaffneter, der sie bedroht.«
»Geben Sie den Befehl zu schießen!«, forderte Scherer Ubbo Heide auf.
Heide nickte.
»Halt! Bitte nicht. Lass mich reingehen. Ich kann es versuchen. Ich habe wirklich guten Kontakt mit ihr«, sagte Ann Kathrin.
Heide wirkte unentschlossen. Jetzt legte Ann Kathrin los. Sie gab alles, und wie so oft sah Weller, noch bevor sie die Sätze aussprach, dass sie sich wieder mal vergaloppierte.
»Ich habe Einfluss auf sie. Wirklich. Ich habe mit ihr schon zusammen in einem Bett geschlafen.«
Ubbo Heide stöhnte: »Das ist nicht dein Ernst.«
Staatsanwalt Scherer wurde gegen die Absprachen laut: »Sie hat kaltblütig vier Menschen umgebracht und einen schwer verletzt. Sie ist da drin mit einer Schwangeren. Wir haben jetzt die Möglichkeit, den Tanz zu beenden. Es ist unverantwortlich, wenn wir nicht handeln!«
»Bitte. Geben Sie mir eine Chance. Ich …«
»Diese Frau ist offiziell gar nicht im Dienst, Herr Heide«, zischte Staatsanwalt Scherer. »Glauben Sie ja nicht, dass ich Sie decke. Wenn Sie das auf Ihre Kappe nehmen wollen, dann …«
Der Scharfschütze Nummer Eins meldete sich noch einmal: »Ich habe freies Schussfeld. Ich könnte ihn jetzt gefahrlos erwischen. Ich habe ihn voll im Fadenkreuz. Ich erwarte Ihren Befehl. Wenn er in die andere Hälfte vom Stall geht, ist er für mich nicht mehr erreichbar. Wir können von hier aus nur einen Bruchteil des Raumes einsehen …«
Heide sah zu Scherer, dann zu Ann Kathrin Klaasen, dann zu Weller. Er war in einer Zwickmühle. Er wusste genau, dass das, was er jetzt in Bruchteilen von Sekunden entschied, später unter Umständen in langen Gerichtsprozessen mit vielen Gutachtern analysiert
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