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Ostfriesensünde

Ostfriesensünde

Titel: Ostfriesensünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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nur mit einem T-Shirt bekleidet, auf dem Sofa und brüllte den Schrank an: »Du entkommst mir nicht, du Mistkerl!«
    Ann Kathrin riss ungestüm ein Fenster auf und fegte dabei eine vertrocknete Orchidee von der Fensterbank.
    Die untergehende ostfriesische Sonne versteckte sich hinter einer tiefliegenden Wolke über Juist. Sie ließ sie im warmen Licht erstrahlen wie ein ausgefranster, vom Himmel gefallener Lampion. Doch auch in der Wolke glaubte Ann Kathrin, das Gesicht ihres Vaters zu erkennen.
    Sie zog sich kurz entschlossen an. Vielleicht, dachte sie, ist die alte Dame noch wach. Bestimmt setzt ihr die Geschichte genauso zu wie mir, und sie kann nicht schlafen. So wie Ann Kathrins Mutter, die oft schon um achtzehn Uhr ins Bett ging,
aber gegen Mitternacht wieder aufstand und dann bis vier, fünf Uhr hellwach war.
    Ann Kathrin stieg in ihren froschgrünen Twingo und parkte schon Minuten später auf dem Gelände der AWO Norden.
    Hinter dem Graben lag der älteste jüdische Friedhof Ostfrieslands. Bei Rita und Peter Grendel brannte noch Licht, aber vom Distelkamp bis zur Schulstraße war ihr kein einziges Auto begegnet. Norden wirkte merkwürdig ausgestorben auf Ann Kathrin.
    Jetzt, kurz nach Sonnenuntergang, kühlte es rasch ab. Sie erinnerte sich an den Nebel, der sie gestern um diese Zeit am Deich umgeben hatte. Der Nordwestwind brachte dunkle Wolken mit sich und schob sie vor die Sterne. Der kleine und große Wagen waren schon nicht mehr zu sehen.
    Die Wohnungen neben Frau Klocke waren dunkel, aber bei ihr lief noch der Fernseher. Das Flimmern schnell wechselnder Szenen spiegelte sich im gekippten Küchenfenster. Ann Kathrin freute sich, sie hatte also Glück. Sie wog ab, ob es klüger wäre zu klingeln oder zu klopfen. Auf keinen Fall wollte sie Frau Klocke unnötig erschrecken.
    Ann Kathrin klopfte erst zaghaft, dann heftiger. Keine Reaktion.
    Vielleicht ist Frau Klocke vor dem Fernseher eingeschlafen, dachte Ann Kathrin. Aber etwas stimmte nicht. Ann Kathrin spürte es an den kleinen Härchen in ihrem Nacken und an den Oberarmen. Sie stellten sich auf.
    Saß Frau Klocke wirklich so spät noch vor dem Fernseher und hörte sich Madonna auf MTV an? Nun, vielleicht hatte sie Besuch von einem Enkelkind.
    Jetzt rappte Bushido. Ann Kathrin klingelte zweimal kurz, dann lauschte sie in die Nacht. Hinter dem Parkplatz, auf dem Friedhof beim jüdischen Mahnmal, machte laut ein Käuzchen auf sich aufmerksam.
    In der Wohnung rührte sich niemand. Vielleicht wäre Ann Kathrin unter anderen Umständen nach Hause gefahren und am nächsten Morgen zurückgekehrt. Doch Madonna und Bushido hatten sie verunsichert.
    Sie ging einmal um das langgestreckte Gebäude herum. Auf der Wiese huschte etwas vor ihr ins Gestrüpp. Sie zählte die Terrassen ab. Dort, hinter dem dritten großen Fenster, musste Frau Klocke wohnen.
    Ann Kathrin trat in einen frischen Maulwurfshügel. Sie beugte sich über das kleine Mäuerchen, hinter dem Frau Klocke auf einem Wäscheständer eine Bluse zum Trocknen aufgehängt hatte. Die Küste hatte einen windigen, sonnenreichen Tag hinter sich. Jedes Wäschestück war in kürzester Zeit getrocknet. Warum holte Frau Klocke ihre Bluse nicht rein, sondern riskierte, dass sie nachts wieder nass wurde? Vor dem Wäscheständer lagen gefaltete weiße Schlüpfer und Hemdchen übereinander in einem blauen Plastikkorb, als sei Frau Klocke beim Reinholen der Wäsche gestört worden.
    Die Terrassentür stand handbreit offen. Drinnen lief jetzt Werbung für Handyklingeltöne. Hektische bunte Comicfiguren warfen Licht in Frau Klockes Wohnzimmer. Ann Kathrin rief den Namen der alten Dame: »Frau Klocke?! Frau Klocke?! Ich bin’s, Ann Kathrin Klaasen!«
    Aber Frau Klocke antwortete nicht. Ann Kathrin reckte ihren Hals und sah Frau Klocke im Sessel sitzen. Die Fernbedienung lag auf dem Boden.
    Ann Kathrin stoppte. Wenn Frau Klocke wirklich beim Fernsehen eingeschlafen war und die Fernbedienung im Runterfallen MTV eingeschaltet hatte, dann würde sie vermutlich einen Schreikrampf bekommen, wenn plötzlich nachts jemand durch ihre Terrassentür ins Wohnzimmer kam.
    Noch einmal rief Ann Kathrin Frau Klockes Namen.
    Die Beine der alten Dame waren x-förmig verrenkt, so als
ob sie jeden Moment vom Sessel auf den Boden rutschen könnte.
    Ann Kathrin fingerte nach ihrem Handy. Sie hatte es nicht mit. Es lag ausgeschaltet neben ihrer gesicherten Dienstwaffe in ihrer Handtasche im Distelkamp. Sie wollte nur rasch einer alten Dame

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