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Ostsee-Storys

Ostsee-Storys

Titel: Ostsee-Storys Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Augustin
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hatte und die Leine mit tüchtigem Schwung weit auswarf bis in die Fahrrinne, stürzte sich im selben Moment eine Möwe herab, verschlang den Köder mitsamt Haken und drehte mit ein paar kräftigen Flügelschlägen ab in Richtung Mole. Das ging alles sehr schnell, wie im Fluge sozusagen. Mein Opa gab Leine, die in Windeseile von der Rolle schnurrte. Im nächsten Augenblick schon, bevor er überhaupt auf die Idee kommen konnte, die Schnur zu kappen, gab es einen Ruck, mein Opa fluchte, wie ich das noch nie von ihm gehört hatte, die Angel flutschte ihm aus den Händen und ditschte wie ein Torpedo durchs Wasser, vorbei an einer Segelyacht in Richtung Priwall-Fähre und entschwand vor unseren Augen in der Weite der Lübecker Bucht. Wortlos packte mein Opa seinen Krempel zusammen und kippte die Maden, Regenwürmer und Brotklumpen ins Wasser. Den ganzen Nachhauseweg über sagte er kein Wort, und in den Fischl aden wollte er diesmal auch nicht gehen. Als wir dann fast zu Hause waren, blieb er abrupt stehen und guckte mich an: Weißt du, mein Junge, wir haben jetzt keine Angel mehr und ärgern uns. Aber die Möwe, die hat jetzt eine Angel – und was meinst du, wie die sich erst ärgert! Danach hat er diesen Vorfall nie wieder erwähnt. Und ich bis jetzt auch nicht.



Lebensgefahr
    Nein, für ein Kind ist es kein Vergnügen, mit den Eltern am Brodtener Ufer spazieren zu gehen. An Lübecks Steilküste, die, vielleicht weniger imposant als Rügens Kreideklippen oder gar die Cliffs of Moher im irischen Westen, doch immerhin an einer Stelle eine Höhe von gut zwanzig Metern erreicht, über dem Meeresspiegel, also dem Ostseespiegel. Es ist verboten, bis ganz vorne an den Rand zu gehen, offiziell sowieso, aber erst recht, wenn die Eltern dabei sind, die ihre Gören hier am liebsten an die Leine, die ganz kurze Leine, nehmen würden. Als kleiner Junge habe ich hier eine gewischt gekriegt, von meiner Mutter, weil ich, trotz mehrfach wiederholter Ermahnung, schließlich doch ganz nah an die Kante vorgeprescht war. Und das kam nun wirklich nicht oft vor. Dass ich eine gewischt kriegte. In diesem Falle empfand ich es als besonders ungerecht, weil nämlich Onkel Rüdiger gerade eben so dicht an die Kante getreten war, dass er, ohne sich nun um einen besonders ausgeprägten hohen Bogen bemühen zu müssen, runterpinkeln konnte, was er auch tat. Es war ihm peinlich. Dass ich allein schon für den bloßen Versuch, ohne weitere Absichten an den Rand zu treten, eine gepfeffert gekriegt hatte. Schnell rechtfertigte er sein Verhalten, indem er darauf hinwies, er habe ja schließlich über die Kante gucken müssen, um sicherzustellen, dass er niemandem auf den Zylinder schiffte, wie er sich ausdrückte. Ein pädagogisch vielleicht nicht ganz ausgereifter Akt der Rechtfertigung. Aber auch der eher halbherzig ausgeführte Schlag hinter die Löffel war ja pädagogisch durchaus anfechtbar, obwohl Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre in den meisten Familien – im Gegensatz zu der unseren, muss ich fairerweise sagen – alles andere als ungebräuchlich. Ich hätte höchstwahrscheinlich auch beim nächsten Spaziergang am Brodtener Ufer einen Moment abgepasst, um möglichst unbeobachtet bis an die äußerste Kante vorzuflitzen, wenn, ja wenn da nicht diese Geschichte mit den beiden Liebespärchen gewesen wäre: die Geschichte mit dem einen Liebespaar oben an der Kante der Steilküste und dem anderen unten am Fuße der Steilküste.
    Das Liebespaar oben hatte sich nämlich geküsst und war dabei mitsamt dem kompletten Steilküstenvorsprung und einem Kaventsmann von Findling auf das sich unten zur selbigen Zeit küssende Liebespaar hinabgestürzt, wobei sowohl der männliche Teil des obigen, wie auch der weibliche Teil des untigen Liebespaares ums Leben kamen. In der Zeitung muss damals viel über dieses Unglück zu lesen gewesen sein, denn beim Frühstück war es das Gesprächsthema meiner Eltern. Eine Geschichte, die natürlich einen pädagogischen Supereffekt hatte: Weder Onkel Rüdiger geschweige denn ich sind danach jemals wieder bis ganz nach vorne an die Kante des Brodtener Ufers gegangen. Dass der überlebende weibliche Teil des knutschenden Liebespaares von oben sich später in den überlebenden männlichen Teil des Liebespaares von unten verlieben sollte und die beiden schließlich sogar heirateten, hat dann zwar auch noch in den Lübecker Nachrichten gestanden, mich aber, ehrlich gesagt, nicht die Bohne interessiert.

Der Vater

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