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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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troff die Farbe vom Pinsel - und ein gewaltiger Schrei! Sie wachte auf.

    Es war noch dunkel, früh am Morgen, als Julia beschloß, daß weiterzuschlafen keinen Sinn hätte. Was für fürchterliche Träume! Halb sechs! Sie zog sich an, mechanisch, als folgte sie einem geheimen Befehl, und wußte sofort, daß sie zum Anleger gehen würde, dann weiter zur Landzunge, um dort das Heraufdämmern des Tages abzuwarten. T-Shirt, Pullover, noch einen Sweater, Wollsocken, Jeans, Kniewärmer darüber, die dicken Boots. Jetzt schnell die Daunenjacke übergestreift und die Pudelmütze auf den Kopf und hinaus, denn schon traten ihr kleine Schweißperlen auf die Stirn. Das Fenster aufgerissen - eiskalte Winterluft strömte herein. Das Wetter war umgeschlagen in den letzten Tagen. Anne hatte recht gehabt: Der Winter brauchte bis Februar, um sich hier einzurichten, um das milde Meeresklima zu überwältigen. Tagelang hatte kalter Nordwind über die Seeseite hergeblasen und die Feuchtigkeit aus dem Föhrenwald und der Heide vertrieben. Die Spinnenweben, die immer noch silbern in den Sträuchern hingen, erstarrten und fielen auf den nun schnell gefrierenden Boden. Die Bäume hielten ganz still.

    Julia zog die Tür des Gartenhauses hinter sich zu. Nur gehen, nur gehen! Diese Träume wegwandern, diese Bedrängnis der Nacht! Irgendwo, ein paar Wege weiter, hörte sie beruhigend das Klappern der Inselmüllabfuhr. Wagner und seine beiden Kutschpferde waren schon früh auf den Beinen; bei der Kälte, so sagte er immer, plagte ihn sein Arm - der Arm, der fehlte.
    Sie bog von der Dorfstraße ab, hinter sich das Rascheln des Müllkutschers, der mit Säcken und Tüten hantierte, das Schnauben der Tiere. Sie passierte das Café Wetterstein, das stumm und dunkel dalag, auch das Schild zur Kellerbar war nicht mehr erleuchtet. Hell kräuselte sich der Meersaum am kurzen Strand beim Anleger. Julia hielt sich seitwärts, wählte den Weg zur Landzunge, den sie gleich am Ankunftstag entdeckt hatte, und schritt vorwärts. Beim Atmen bildeten sich weiße Wölkchen vor ihrem Gesicht, die Nase begann zu schmerzen vor Kälte, sie zog die Mütze noch tiefer ins Gesicht.
    Die Liebe
Sagt Malvine
Das ist auch nur eines
Deiner vielen Gespenster

    Gewiß
Sage ich
Gewiß sage ich und lächle
Aber es hat schöne Augen
    Warum fiel ihr dieses kleine Gedicht jetzt ein? Sie wollte nicht an Ladestein denken, nicht an die Arbeit, die sie mit ihm verband, und schon gar nicht an das gallige Gefühl der Enttäuschung, das seit Jeanettes Entdeckung das Archivieren und Sortieren so unendlich schwermachte. Sie nahm die
Pudelmütze ab und fuhr sich durch die Haare, um zur Besinnung zu kommen. Sie wollte sich nichts vormachen, sie dachte an Hanno. Das kleine Gedicht war ihr eingefallen, weil sie von Hanno geträumt hatte. Hörte das nie auf? Julia merkte, wie etwas im Hals zu kratzen und zu würgen begann, wie es in den Augen brannte. Verdammt noch mal, es war doch nur ein Traum! Zwischen Drachen und Meerjungfrauen. Seltsam, wie sehr sie sich an jede Einzelheit erinnerte. An die Dunkelheit, die Kälte, das Fehlen jeglicher Hoffnung. Sie schaute sich um. Die Gegend sah trostlos aus, so kurz vor der Morgendämmerung, sie sagte ihr nichts. Heute blieb die Insel stumm.
    Julia sehnte sich nach dem nächtlichen Licht, das sie vor ein paar Tagen bei einer ihrer ruhelosen Wanderungen entdeckt hatte. Sie war unterwegs gewesen, wieder einmal, ohne zu wissen, warum. Sie hatte sich schon fast mit dieser Schlaflosigkeit abgefunden, die sie seit der Trennung von Hanno regelmäßig heimsuchte, und nachdem sie sich angewöhnt hatte, nach draußen zu gehen, den vom Schlafen steifen Körper in der kalten Luft zu bewegen, hatte sie zu einem neuen, seltsamen Lebensrhythmus gefunden. Immerhin hatte sie die alte Angewohnheit, den Schlaf mit Hilfe von Dosenbier anzulocken, nicht wieder aufgenommen, und hatte bei ihrer nächtlichen Rumtreiberei, wie sie es selber nannte, überrascht festgestellt, daß sie keineswegs als einzige so früh auf den Beinen war. Wagner zum Beispiel schien kurz davor, sie zu grüßen, der neue Angestellte von Erikas Laden pflegte in aller Herrgottsfrühe die Paletten mit Waren hinauf ins Dorf zu schaffen, und auch der Nachfahrin der sagenhaften Windzauberin konnte man um diese Uhrzeit begegnen. Julia grüßte sie immer, vorsichtshalber, und ging dann rasch weiter.
    Grün. Grün und violett. So hatte sich das Meer verwandelt in jener Nacht, nach deren Magie Julia jetzt

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