Ostseeliebe
einziger, schmaler Pfad, da mußte man nicht nachdenken, wohin man die Schritte lenken sollte. Bald wurde ihr Gang fester, entschlossener. Sie schaute nach unten, hatte kein Auge für das Meer, das den schmalen Landstreifen sanft umspülte und sie in Ruhe ließ. Julia schaute nach unten, auf ihre Schuhe, die abwechselnd vorwärtsschnellten und deren Spitzen bei jedem Schritt kleine Sandhäufchen aufwarfen; aber eigentlich war sie tief in Gedanken versunken. Sie nahm nur den Rhythmus wahr, so wie ihren eigenen Atem. Daß sie den bemerkte, wunderte sie. Doch die Stille hier war eine andere als zu Hause, selbst die Geräusche des Meeres und der Vögel waren ein Teil des allgemeinen Schweigens, unterbrachen es nicht.
Nach einer halben Stunde hatte sie beinahe schon die Ausläufer der Landzunge erreicht. Sie wandte sich um.
Da lag die Insel im Morgenlicht.
3
Sie hielt sich gebeugt, ohne Selbstvertrauen. Die Insel wußte, daß sie keine Bedeutung besaß, niemals war sie von Minnesängern oder barocken Dichtern besungen worden, ja nicht einmal Protestsänger hatten den Weg hierher gefunden. Sie war kaum einmal geliebt, nur bewohnt worden, für den Augenblick, von Menschen, von durchziehenden Vögeln. Wer von hier fortging, vermißte nichts, wer hier lebte, vergaß die Vergangenheit und hatte keinen Blick für die Zukunft. Das Meer verstellte ihn. Julia dachte an Helgoland, diese ganz andere deutsche Insel, die sich kühn wie eine von Franz Stuck angebetete Rothaarige aus der Nordsee erhob. Was für eine Arroganz lag doch in diesem sich aufbäumenden, scharfgesichtigen Felsen! Wie sicher war sich Helgoland seiner Wirkung und seiner Dauer, und das Meer, diesen brüllenden, ungehobelten Liebhaber, verachtete es. Das Meer schrie diese Insel an, schüttelte die Fäuste und heulte dann wieder vor Verzweiflung. Helgoland trotzte den Gezeiten, trotzte den Gesetzen der Natur, und auch wenn jede neue Sturmflut weitere Kanten aus dem Gestein brach, würde es doch überleben - zumindest seine Legende.
Diese Insel hier besaß keine. Sie hockte unkengleich auf dem flachen Bodden, mit breiten, flachen Flanken, schutzlos, offen. Jemand hatte, so schien es, einen gewaltigen Eimer voller Schlick übrigbehalten, nachdem die andere, die
große Insel gebaut war, und diesen Eimer achtlos geleert. So lag die Insel nun da. Sand, Mergel, Kalkstein, Landmassen, nur lose übereinandergeschichtet.
Zur Linken, wo die Sonne sich jetzt langsam einen Weg durch den Dunst zu suchen begann, lag die Landschaft da wie ein offenes Buch. Julia konnte Häuser erkennen, weiß und flach, die ein Kind beim Spiel hingewürfelt haben mochte. Das war Godshorn, die Heimat der Fischer.
Dann, unmittelbar vor ihr, Stiftsdorf, das Zentrum der Insel, das sich hinter Föhrenwipfeln duckte, diese merkwürdige Ansammlung schmucker Häuser, die mit aller Kraft verleugneten, Nachbarn der See zu sein. Überall hätte es sein können, dieses Stiftsdorf, auch im Mittelgebirge, im Sauerland oder in einer südwestdeutschen Ebene wäre dieses Nest denkbar gewesen. Zur Rechten raffte sich die Insel zu einer Anhöhe auf. Eine steinalte Stauchmoräne war das, die sich da erhob. Kein glutfarbener Felsen, nur eine Menge horizontaler Schichten, mit Fleiß, aber ohne rechte Inspiration übereinandergetürmt.
Jederzeit und überall war in den Gesteinsschichten die Vergangenheit ablesbar. Julia mochte die Transparenz dieser Insel, sie mochte das Unaufgeregte. Die Durchsichtigkeit gab ihr etwas Leichtes, Unverkrampftes. Diese Insel spielte mit offenen Karten. Das hatte sie allerdings im Norden, so viel wußte Julia, so manchen Meter gekostet. Schon vor langer Zeit hatte der Mensch helfen müssen, und so trug die Insel vor der nördlichen Küste, wo die Winde vom Skagerrak her im Winter gewaltig bliesen, einen schützenden Ring aus Dioritsteinen. Dieser künstliche Damm zwängte sich in metallischem Grau um die Spitze des Landes wie eine unbeholfen angefertigte Zahnspange: schief und schmerzend, nützlich, aber entstellend.
Oben auf der Hügelkette, die sich vom Nordende her bis
Stiftsdorf zog, konnte Julia einen ausladenden, recht düster wirkenden Föhrenwald sehen. Da war Marianne Brants Reich, dort betrieb sie ihre berühmte »Restauration«. Das hatte Frau Bult erzählt. Dorthin hatte sie ihre beiden Opfer entführt, das schüchterne Paar von der Fähre. Sie waren wie fortgezaubert. Julia fragte sich, ob sie die beiden noch einmal wiedersehen würde. Vielleicht hatten sie längst
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