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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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zu mitternächtlicher Stunde auf dieser Insel an, nötigte Frau Bult, ihre Vorgesetzte, sie abzuholen, stolperte mit ihr tolpatschig durch den Matsch, um am nächsten Morgen erst einmal ohne weitere Erklärung zu verschwinden. Nicht genug damit, daß sie verschlafen und dann bei einem Spaziergang die Zeit vergessen hatte, nein, sie hatte sich auch nicht einmal abgemeldet, geschweige denn, für die Hilfe am gestrigen Abend bedankt. Statt dessen überfiel sie Frau Bult jetzt, um ihr rein private Geschichten zu erzählen, als sei sie hier ein Feriengast und habe nichts Besseres zu tun...
    »Nun trinken sie erst mal einen Schluck!« sagte Frau Bult in einem Ton, als spräche sie zu einem kranken Kind, und in der Tat fühlte sich Julia kindisch, unwissend. Nichts von alledem, was hier vor sich ging, verstand sie. Und das Schlimme dabei war, so viel begriff sie immerhin, die Insel war so klein, daß man etwas verstehen mußte. Das war kein Wohnen im Wohnblock. Es war, ganz anders als zu Hause in Bielefeld, nicht egal, was in den Nachbarstraßen und -gemeinden vor sich ging. Wenn etwas geschah, dann betraf es erst einmal jedermann, und später konnte man dann entscheiden,
ob das Ereignis bedeutend gewesen war oder nicht. Zunächst einmal aber hatten alle Anteil daran, so wie alle Anteil an Ebbe und Flut, Sonnenaufgang und -untergang und dem An- und Ablegen der Fähre hatten. Und deshalb urteilten sie auch erst einmal nicht. Sondern nahmen nur wahr.
    »Nun trinken Sie mal«, wiederholte Frau Bult, ohne eine Spur von Ungeduld in der Stimme.
    Julia trank. Der Tee schmeckte kräftig und bitter, und er erinnerte ein wenig an den Geruch auf dem Schiff. Kleine Blätter schwammen darin, wie Algen. Julia genoss die Pause, die ihr das Teetrinken gewährte, ein seit Jahrhunderten eingeübtes, beinahe feierliches Ritual, eine Zäsur mitten im Tag. Alles wurde bewußt getan und durch kein Gespräch unterbrochen: das langsame Umrühren, um den Kandis aufzulösen, das Ablegen des Löffels auf dem Unterteller, das behutsame Ansetzen der Tasse mit ihrer dampfend heißen Flüssigkeit. Innehalten und erneutes Betrachten, während sich der Inhalt langsam abkühlte. Hände, die sich wie eine Schale um die Tasse legten, Wärme suchend.
    Frau Bults Teetassen waren feine, blau-weiße Porzellangefäße mit einem hübschen, geschwungenen Rand, über den Julia nun nervös mit den Lippen strich.
    »Das mit den Touristen ist normal«, sagte Frau Bult nach einiger Zeit, und man merkte ihr die Anstrengung an, als sie nun zu einer offenbar längeren Erklärung ansetzte.
    »Wir haben nichts gegen Touristen. Schließlich sorgen sie seit etwa hundert Jahren für einen bescheiden wachsenden Wohlstand. Und die ersten, die kamen, Anhänger der Freikörperkultur, Gesundheitsapostel aus Thüringen und müde Künstler aus Berlin, haben das Gesicht der Insel schließlich auch mitgeprägt. Wohlhabende Urlauber, die Jahr für Jahr wiederkehrten, haben sich hier nicht etwa Lauben oder Datschen, sondern regelrechte Villen bauen lassen. Stiftsdorf ist
geprägt davon. Es hat Ansätze - verzeihen Sie, wenn ich jetzt ins Dozieren komme, aber für das Thema interessiere ich mich schon lange -, es hat also Ansätze einer Bäderarchitektur, wie sie sonst nur wesentlich größere Orte aufweisen, mit mehrstöckigen Häusern, die mit repräsentativen, zum Teil säulengeschmückten Eingängen und schmiedeeisernen Balkonen aufwarten können. Auf manchem Portikus findet sich sogar eine feierliche Inschrift, ein Motto oder dergleichen, während die inseltypischen Häuser als einziges Erkennungszeichen lediglich sogenannte ›Hausmarken‹ zeigen, Zeichen des Besitzers... Aber das erkläre ich ihnen später.«
    Sie nahm einen Schluck Tee. Alles, was Anne Bult tat, tat sie konzentriert und besonnen, und so war auch ihre Rede. Sie klang wie lange vorformuliert. Ihre Gedanken, gebündelt und geklärt, brauchten lange, bis sie zu gesprochenen Sätzen wurden. Dann aber hatten sie Bestand in ihrer etwas altertümlichen, schnörkellosen Ernsthaftigkeit. Es klirrte leise, als sie die Teetasse absetzte. Sie runzelte die Stirn.
    »Gut, die Touristen. Auch heute noch gibt es sie, die Künstler und die Gesundheitsapostel, die hier ihre Sommerfrische genießen. Meist kommen sie regelmäßig, so daß sie sich problemlos in unseren Alltag einfügen. Man kennt sich, man grüßt sich, man zieht die Betten ab, wenn sie wieder fahren. Sie sind die einzigen, die in der Scheune - das ist das beste

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