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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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schienen alle mehr oder weniger aus derselben Hundegroßfamilie zu stammen, hatten etwas Spitzartiges, Terrierhaftes. Schifferhunde eben, selbstsicher und gewieft. Julia wurde aus ihren Beobachtungen gerissen. Etwas hatte sich verändert. Die Leute, die jetzt beim Laden ankamen, gingen nicht hinein, sie blieben vor dem Eingang stehen und redeten aufeinander ein. Das Wort führte eine alte Frau, die, heftig gestikulierend, immer wieder zum Meer wies.
    »Aber ich sage es doch, wenn ihr mir nicht glauben tut …«
    Und dann rannte auch schon einer los:
    »Ich geh telefonieren nach’m Doktor!«
    Und ein anderer wandte sich um und lief Richtung Meer. Zwei, drei junge Burschen hinterdrein. Und die Frauen. Schließlich alle. Und ehe sie sich versah, war auch Julia in
ihren etwas schwerfälligen Germanistinnen-Galopp gefallen und hastete hinter den Dorfbewohnern her. Julia wußte, wie es aussah, wenn sie rannte, deshalb ließ sie es meist bleiben: Emsige kurze und recht schlanke Beine bemühten sich, das gewaltige Mittelteil dieses Körpers nach vorne zu bringen, während der Oberkörper bis auf heftig rudernde Arme seltsam unbewegt blieb. Julia wußte nicht, wie man richtig rannte; sie war zu beschäftigt damit, diesen ungeliebten und unharmonischen Körper in Bewegung zu setzen, als daß sie sich um die Koordination ihrer Bewegungen, ihrer Atmung hätte kümmern können. Und deshalb tat ihr selbst nach kurzen Strecken oft der Nacken weh, den sie unnatürlich aufrecht hielt, und außer Atem war sie, heftige Röte fleckte ihr Gesicht, sie schwitzte schnell und noch lange, nachdem die Anstrengung vorbei war. Diesmal war der Weg nicht so weit, wie sie geglaubt hatte, kein Vergleich jedenfalls zu dem von gestern abend, oder war es doch dieselbe Strecke gewesen? Sie sah, daß die ersten unten neben dem Anleger angekommen waren, wo ein kleines, schmutziges Stück Strand vom Dorf zum Meer führte. Die Leute sammelten sich um einen Punkt, blieben stehen, wurden ganz ruhig. Julia drängelte sich durch, die Städterin, die immer auf dem laufenden sein muß.

    Ihr wurde übel. Da lag ein Mann. Ein Toter. In einem blauen Arbeitsanzug, den Leib und die Hände aufgequollen und um den voluminösen Hals eine Krause aus moderndem Tang. Muschelreste darin. Die Augen des Mannes waren weit geöffnet, die Pupillen in den Himmel gestülpt, mit einem Ausdruck leeren Entsetzens, und es sah aus, als hätte das Wasser jede Farbe aus der Iris gewaschen. Das Meer hatte ihn gründlich gebeutelt, hatte ihm eine Abreibung verpaßt. Erst eingeweicht, ein paar Tage vielleicht in eiskalter See, tüchtig angespuckt mit salzhaltigster Gischt, aufgeschäumt,
klargespült, daß die Haut ganz schrundig geworden war und sich verfärbt hatte zu krankem Weiß. Der Tote hatte die Lippen so fest zusammengepreßt, daß sie fast verschwanden im fahlen Gesicht. Das dunkelbraune halblange Haar hatte schon etwas Pflanzenhaftes angenommen, schien sich um die Schädeldecke zu schlingen. Die Beine waren grotesk verrenkt. Ein Ohr fehlte.
    Das registrierte Julia noch. Dann mußte sie sich übergeben. Würgend, quälend. Sie stützte sich auf ihre Knie. Die zitterten. Halb abgewandt, nahm sie die Jackensäume und Beine der Leute wahr, die den Toten umstanden und berieten, was zu tun sei. Derbe Jacken, Dunkelblau oder Braun trugen sie, und alle, auch die Frauen, hatten diese formlosen Baumwollhosen, die früher einmal irgend jemandem gepaßt haben mußten. Alle Hosenbeine wiesen dicke Schmutzränder auf, graubraune Lehmschlieren, die bei einigen offenbar schon mehrere Wäschen überstanden hatten. Inselränder. Breitbeinig standen die Leute im Sand, ihre Arme hingen entspannt herab, niemand stemmte die Hände in die Seiten, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, niemand verschränkte die Arme, um Distanz und Überlegenheit zu zeigen. Das hatten die Leute nicht nötig. Sie standen, im Angesicht des Todes, einfach beieinander, offenbar auf selbstverständliche Weise damit vertraut, vertraut miteinander, mit der Natur. Ganz bestimmt hätten sie auch ohne diese kleine improvisierte Besprechung automatisch das Richtige getan, denn daß der Tote hier angespült worden war, schien zwar ein ungewöhnliches, jedoch kein völlig neuartiges Ereignis zu sein. Doch das Beraten und Innehalten gehörte dazu. Es war Teil eines Rituals, eines Abschieds-Rituals. Sie waren es dem Unbekannten, der da vor ihnen im Sand lag, schuldig, einen Augenblick zu verharren. So kamen Julia die Leute vor.

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