Ostseeliebe
die nächste Fähre zurück zum Festland genommen. Nicht jedem würde die Insel bekommen. Und Marianne Brant vermochte bestimmt, sehr viel hartgesottenere Leute in die Flucht zu schlagen als diese harmlose Iris mit ihrem Mann.
Himmel, Frau Bult! Julia schaute auf die Uhr. Schon nach elf! Was sollte die Leiterin der Forschungsstätte wohl von ihrer neuen Mitarbeiterin halten?! Julia hastete zurück, Richtung Dorf, und wieder schaute sie kaum auf beim Gehen, stolperte ein paarmal, fing sich wieder, eilte. Stimmen zerschnitten die Stille, unvermittelt und scharf:
»Mein Gott, Uschi, nun schau, wo du hintrittst!«
»Hätte ja auch mal einer sagen können, daß das hier mitten durch die Walachei führt!«
»Warum habe ich bloß nicht daran gedacht, mir noch Zigaretten zu holen?«
»Härbärrt!«
Eine Fähre lehnte am Anleger, schief vor Müdigkeit. Ihre weiße, stählerne Außenhaut schubberte am Kai. Touristen strömten über den Strand, so behende, als wüßten sie von Sonderangeboten in den Inselläden. Frauen in den Fünfzigern, die energisch ihre Handtaschen hin- und herschleuderten. Weiße Söckchen, die aus Sandalen leuchteten, wegen der Bequemlichkeit angeschafft. Wie der Wagen. Wie der Mann. Die Männer trugen unweigerlich lila Blousons aus Ballonseide, die sich um die Hüften bauschten. Die Verwegensten unter ihnen verbarrikadierten ihre Augen hinter
blau verspiegelten Sonnenbrillen mit riesigen Gläsern. Goldglänzende Armbanduhren, Hosen mit überfordertem Dehnbund.
»Das hättest du dir denken können, daß die hier noch keine Promenade haben!«
»Ha-ha, aber Kneipen haben sie, das sehe ich!«
»Susi!!«
»Hat jemand Herrn Nagel gesehen?«
»Wo bleibt eigentlich das ganze Geld, das wir jeden Monat für den Soli zahlen? Ich meine, wenn ich mich hier umschaue …«
Sie schauten sich nicht um. Sie schauten einander auch nicht an. Sie nahmen die Insel in Besitz, eine gedankenlose Horde leutseliger Invasoren. Die ersten hievten bereits ihre breiten Hintern den Weg hinauf, während andere noch über den Strand gingen. Profilsohlen, Latexschuhe, geriffelte Boots - sie pflügten und trampelten durch den Inselsand, zerschnitten mit ihren Absätzen kleine Rinnsale und Algen, die sich wie Haarschlaufen ausgebreitet hatten im Sand, zwecklose Arrangements der Flut.
Und da war die Stelle, wo vorhin noch der Tote gelegen hatte. Doch schon war es passiert: Auch diese Stelle zerfurchten sie mit achtlosen Schritten, über alles gingen sie hinweg, als wäre es nichts, als gäbe es nichts, keine Gegenwart, keine Vergangenheit. Nur sie gab es mit ihrem Bieroder Sandtortenhunger, den zu stillen sie ein Recht zu haben glaubten seit der harten Nachkriegszeit. Ein Recht auf Sandtorte. Ein Recht auf Bier. Ein Recht auf Schnaps und Ausflüge mit dem Dampfer. Und alles sofort und dalli-dalli! Nun freilich, hier im Osten, bei dieser Mentalität …
Julia merkte, daß sie Blicke streiften. Und daß man sie für eine Einheimische hielt. Und daß sie nichts dagegen hatte, absolut nichts.
Sie hastete an der Gruppe vorbei, auf den Weg, und im
Nu war sie im kleinen Lebensmittelladen angekommen, als suchte sie Schutz. Den allerdings bot das kleine Inselgeschäft kaum. Erikas Laden wies jene nüchterne Reinlichkeit auf, die Kinder immer schon bei ihren Eltern gehaßt haben. Blendendes Neonlicht auf weißen Wänden, ein heller Linoleumboden, in weißen Regalen aufgeschichtete Waren, angeordnet mit gerade immer so viel Zwischenraum, daß man nicht umhin kommt, auch hier die vollkommene Sauberkeit wahrzunehmen. Kein Makel, kein Stäubchen, Geruch nach salmiakhaltigen Putzmitteln, die in diversen Größen angeboten werden. Plastikeimer, ein metallener Zeitungsständer, jetzt, um die Mittagszeit, schon weitgehend geplündert. Eine brummende Tiefkühltruhe, Brot, Marmelade, Konserven, ein schmales Regal mit Spirituosen direkt neben der Kasse. Das Gespräch verstummt, als sie eintritt. Die Leute von vorhin, vom Strand. Und eine rothaarige Kassiererin.
»Na, Frolleinchen...« Der Gutmütige von eben.
»Ha’m Se sich das noch mal überlegt mit’n Schnäpschen?«
Zu ihrer eigenen Überraschung hört sich Julia »Ja, gern!« sagen. Kriegt einen Schnaps und noch einen und lernt so den Unterschied zwischen Rostocker Klarem und dem inseltypischen Sanddornschnaps kennen. Beide brennen, und das ganz gehörig. Es treibt ihr die Tränen in die Augen.
»Na, Frolleinchen…« Der Gutmütige hat anscheinend beschlossen, bis auf weiteres bei
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