Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Schritte voraus und im Strom der gemütlich zu den Ausgängen schlendernden Studenten und Dozenten schon kaum mehr auszumachen. Sie ging schneller, um ihn einzuholen.
»Alle zwei Wochen«, sagte sie. »Einmal am Tag, wenn Prüfungen sind. Das macht mich noch wahnsinnig.«
Er lächelte. Er hatte dicke Brillengläser, aber hübsche Zähne. »Wenigstens kommen wir mal an die frische Luft.«
Minutenschnell war auf der breiten Straße vor der Technischen Hochschule von Durban 4 eine Art spontaner Karneval lachender Studenten und Studentinnen im Gange, die froh über den Unterrichtsausfall waren. Eine Gruppe junger Männer hatte sich die Jacken wie Röcke um die Taillen gebunden und tanzte auf dem Dach eines geparkten Wagens, ohne sich um die schrill und schriller werdenden Befehle einer älteren Professorin zu kümmern, sofort damit aufzuhören.
Renie beobachtete sie mit gemischten Gefühlen. Auch sie fühlte den Reiz der Freiheit, genauso wie sie die warme afrikanische Sonne auf Armen und Nacken fühlte, aber sie wußte auch, daß sie mit dem Korrigieren der Semesterarbeiten drei Tage im Rückstand war, und wenn der Bombenalarm zu lange dauerte, mußte sie eine Einzelstunde ausfallen lassen und diese dann neu ansetzen, was abermals ein Stück ihrer rapide schwindenden Zeit fressen würde.
Yono, oder wie er sonst heißen mochte, grinste beim Anblick der tanzenden Studenten. Ein Anflug von Verärgerung über seine verantwortungslose Heiterkeit überkam Renie. »Wenn sie frei haben wollen«, sagte sie, »warum zum Teufel schwänzen sie dann nicht einfach? Warum stellen sie so einen Unfug an und zwingen uns andere -«
Ein blendender Lichtblitz ließ den Himmel weiß aufleuchten. Renie wurde von einem orkanartigen Stoß heißer, trockener Luft zu Boden geworfen, als ein gewaltiger Donnerschlag an der ganzen Hochschulfassade das Glas zerschmetterte und an Dutzenden von geparkten Autos die Scheiben zersplittern ließ. Sie hielt sich die Arme über den Kopf, aber es gab keine fliegenden Trümmer, nur das Schreien der Menschen. Als sie wieder auf den Beinen stand, erblickte sie keine Anzeichen von Verletzungen an den ringsherum durcheinanderlaufenden Studenten, aber eine schwarze Rauchwolke wallte über der Stelle auf, wo sich das Verwaltungsgebäude in der Mitte des Campus befinden mußte. Der Campanile war fort, von dem schönen bunten Turm war nur noch der schwarze, rauchende Stumpf des Fibramicskeletts übrig. Jäh von Übelkeit und Schwindel erfaßt, stieß sie die Luft aus. »Gott im Himmel!«
Ihr Kollege neben ihr erhob sich schwerfällig, und seine dunkle Haut war beinahe grau. »Diesmal war’s echt. Mein Gott, ich hoffe, sie haben alle rausgeschafft. Wahrscheinlich schon – die Leute von der Verwaltung verlassen immer als erste das Gebäude, damit sie die Evakuierung überwachen können.« Er redete so schnell, daß sie ihn kaum verstehen konnte. »Wer war’s deiner Meinung nach?«
Renie schüttelte den Kopf. »Der Broderbund? Zulu Mamba? Wer weiß? Verdammt nochmal, daß war das dritte Mal in zwei Jahren. Wie können die das machen? Warum lassen die uns nicht arbeiten?«
Der Schreck im Blick ihres Begleiters verstärkte sich. »Mein Auto! Es steht auf dem Verwaltungsparkplatz!« Er drehte sich um und drängelte sich, so schnell er konnte, durch die Scharen betäubt wirkender Studenten hindurch, von denen einige weinten und offenbar keinem mehr der Sinn nach Lachen und Tanzen stand. Ein Wachmann, der den Bereich um den Explosionsort abzusperren versuchte, rief ihm etwas zu, als er vorbeirannte.
»Sein Auto? Idiot.« Renie war selber nach Weinen zumute. Aus der Ferne erscholl Sirenengeheul. Sie klaubte eine Zigarette aus der Tasche und zog mit zitternden Fingern den Zündstreifen. Sie waren angeblich nicht krebserregend, aber im Moment war ihr das egal. Ein Stück Papier, schwarz an den Rändern, flatterte herab und landete vor ihren Füßen.
Und schon stießen die ferngesteuerten Kameras vom Himmel herab wie ein Schwarm Fliegen und saugten Bildmaterial für das Netz auf.
Sie war bei der zweiten Zigarette und fühlte sich schon ein wenig ruhiger, als jemand ihr auf die Schulter klopfte.
»Frau Sulaweyo?«
Als sie sich umdrehte, stand vor ihr ein schlanker Junge mit gelbbrauner Haut. Er hatte kurze, kleinkräuselige Haarknötchen. Er trug eine Krawatte, ein Kleidungsstück, das Renie schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.
»Ja, bitte?«
»Ich glaube, wir waren verabredet. Zu einer
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