Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
dem Buch gelesen, das ich dir geschenkt hab?« Zu seinem Geburtstag hatte sie zu einem recht stolzen Preis Otulus Der lange Weg zur Freiheit heruntergeladen, das beste und spannendste Buch über den Kampf Südafrikas für Demokratie im späten zwanzigsten Jahrhundert, das sie kannte. Als Zugeständnis an die Vorlieben ihres kleinen Bruders hatte sie die teure interaktive Version mit reichlich historischem Videomaterial und schicken 3D nachgespielten »Live-dabei«-Szenen gekauft.
»Noch nicht. Hab’s mir angeschaut. Politik.«
»Es ist mehr als das, Stephen. Es ist dein historisches Erbe – unsere Geschichte.«
Er kaute. »Soki und Eddie und ich wären beinah in den Inneren Distrikt reingekommen. Wir hatten ’nen Passiercode von ’nem Jungen aus der letzten Klasse. Wir waren beinah drin! Voll durch!«
»Stephen, ich will nicht, daß du versuchst, in den Inneren Distrikt zu kommen.«
»Hast du doch auch gemacht, als du so alt warst wie ich.« Sein Grinsen war unverschämt entwaffnend.
»Damals waren die Verhältnisse anders – heutzutage kannst du verhaftet werden und dir eine hohe Strafe einhandeln. Im Ernst, Bruderherz. Tu’s nicht!« Doch sie wußte, daß die Warnung sinnlos war. Genauso gut konnte man Kindern verbieten, auf Bäume zu klettern. Stephen plapperte bereits munter weiter, als ob sie gar nichts gesagt hätte. Sie seufzte. Am Grad der Erregung konnte sie erkennen, daß ihr ein dreiviertelstündiger Vortrag, gespickt mit obskurem Junior-Netboy-Jargon, bevorstand.
»… echt megachizz späcig. Drei Bullenboxen ham wir ausgetrickst. Aber wir ham nichts Verbotenes gemacht«, setzte er hastig hinzu. »Nur’n bißchen angezapft und rumgespitzelt. Aber es war total abgezoomt! Wir haben einen getroffen, der in Mister J’s drin war!«
»Mister J’s?« Bei dem Wort kam sie zum erstenmal nicht mehr mit.
Stephens Blick veränderte sich plötzlich, Renie meinte, ein unsicheres Flackern in seinen Augen zu bemerken. »Och, bloß so’n Schuppen. Sowas wie’n Club.«
»Was für ein Club? Ein Vergnügungslokal? Mit Shows und solchem Zeug?«
»Genau. Shows und so Zeug.« Er spielte einen Augenblick mit seinem Hühnerknochen. »Bloß so’n Schuppen.«
Es bummerte an die Wand.
»Renie! Bring mir ein Glas Wasser.« Long Josephs Stimme klang schwer und benommen. Renie verzog das Gesicht, aber ging zum Waschbecken. Bis auf weiteres brauchte Stephen so etwas wie ein normales Familienleben, aber wenn er erst einmal aus dem Haus war, würde es hier anders langgehen.
Als sie zurückkam, schlang Stephen gerade den letzten Rest seines dritten Tellers hinunter, aber an seinem zappelnden Bein und seiner halb erhobenen Sitzhaltung sah sie, daß er es kaum erwarten konnte, wieder ins Netz zu kommen.
»Nicht so eilig, junger Krieger. Wir sind kaum dazu gekommen, uns zu unterhalten.«
Jetzt zuckte beinahe etwas wie Panik über sein Gesicht, und Renie spürte, wie sich ihr der Magen zusammenkrampfte. Er verbrachte eindeutig zu viel Zeit an der Strippe, wenn er derart süchtig danach war. Sie nahm sich vor, dafür zu sorgen, daß er auch mal vor die Tür kam. Wenn sie ihn am Samstag in den Park mitnahm, konnte sie verhindern, daß er einfach zu einem Freund ging, sich einstöpselte und dann den ganzen Tag am Boden herumflezte wie ein Weichtier.
»Na schön, erzähl mir mehr über die Bombe«, sagte Stephen plötzlich. »Erzähl mir alles darüber.«
Sie erzählte, und er hörte aufmerksam zu und stellte Fragen. Er wirkte so interessiert, daß sie ihm auch von dem ersten Treffen mit ihrem Studenten !Xabbu erzählte, wie klein und höflich er gewesen war, wie komisch und altmodisch angezogen.
»Voriges Jahr hatten wir einen Jungen wie ihn in der Schule«, sagte Stephen. »Aber er wurde krank und mußte abgehen.«
Renie mußte daran denken, wie !Xabbu ihr beim Abschied gewunken hatte, an seinen schlanken Arm und sein liebes, fast trauriges Gesicht. Würde auch er krank werden, körperlich oder seelisch? Er hatte gesagt, daß nur wenige von seinen Leuten das Leben in der Stadt gut vertrugen. Hoffentlich war er eine Ausnahme, dachte sie – sein stiller Humor hatte ihr gut gefallen.
Stephen stand auf und räumte unaufgefordert ab, dann stöpselte er sich wieder ein, aber zu ihrer Überraschung ging er in Der lange Weg zur Freiheit, wobei er hin und wieder unterbrach, um ihr Fragen dazu zu stellen. Nachdem er schließlich auf sein Zimmer verschwunden war, las Renie anderthalb Stunden lang Semesterarbeiten und ging
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