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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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sein.«
    »Suchst du Streit oder was?« Long Joseph versuchte sie mit einem grimmigen Blick aus roten und wäßrigen Augen in Grund und Boden zu starren. Er ist wie ein alter Stier, dachte sie, geschwächt, aber immer noch gefährlich. Sie wurde schon müde, wenn sie ihn nur anschaute.
    »Nein, such ich nicht. Ich dachte, du würdest ein einziges Mal was zu Abend machen.«
    »Walter war da. Gab viel zu reden.«
    Gab viel zu trinken, dachte sie, aber hielt den Mund. So wütend sie war, lohnte es sich doch nicht, schon wieder einen Abend lang herumzuschreien und Geschirr zu zerteppern. »Also bleibt’s wieder an mir hängen, stimmt’s?«
    Schwankend zog er sich wieder in die Dunkelheit seines Zimmers zurück. »Mach doch, was du willst. Ich hab keinen Hunger. Ich will meine Ruhe haben – ein Mann braucht seinen Schlaf.« Die Sprungfedern seines Bettes knarrten, dann war es still.
    Renie stand einen Moment da, öffnete und schloß die Fäuste, dann ging sie mit erzwungener Ruhe zur Tür seines Zimmers und zog sie zu, um sich Platz zu verschaffen, freien Raum. Sie schaute nach Stephen, der immer noch im Netz herumwackelte und -zuckte. Wie ein Katatoniker. Sie ließ sich auf einen Stuhl sacken und zündete sich die nächste Zigarette an. Es war wichtig, daß sie die Erinnerung an ihren Vater wachhielt, wie er einmal gewesen war, sagte sie sich, wie er manchmal immer noch war: ein stolzer Mann, ein gütiger Mann. Es gab Leute, in denen die Schwäche, wenn sie einmal zutage getreten war, wie ein Krebsgeschwür wuchs. Mamas Tod bei dem Kaufhausbrand hatte diese Schwäche getroffen und offengelegt. Joseph Sulaweyo schien nicht mehr die Kraft zu haben, gegen das Leben anzukämpfen. Er ließ alles schleifen, koppelte sich langsam, aber sicher von der Welt ab, von ihren Schmerzen und Enttäuschungen.
    Ein Mann braucht seinen Schlaf, dachte Renie, und zum zweitenmal an diesem Tag erschauerte sie.
     
    Sie beugte sich hinab und drückte auf Unterbrechung. Noch immer gesichtslos in seinem Headset verkrampfte sich Stephen vor Empörung. Als er die insektenartige Visette nicht hochklappte, hielt Renie den Knopf gedrückt.
    »Wieso?« quengelte Stephen schon, bevor er überhaupt die Kopfarmatur fertig abgesetzt hatte. »Ich und Soki und Eddie waren fast schon am Gateway zum Inneren Distrikt. So weit waren wir noch nie!«
    »Weil ich was für dich gekocht hab und will, daß du es ißt, bevor es kalt wird.«
    »Ich schieb’s in die Welle, wenn ich fertig bin.«
    »Nein, das wirst du nicht. Los, komm, Stephen. In der Uni ist heute eine Bombe explodiert. Es war schrecklich. Ich hätte beim Essen gern deine Gesellschaft.«
    Er streckte sich, der Appell an seine Eitelkeit wirkte. »Chizz. Was gibt’s?«
    »Hühnchen mit Reis.«
    Er verzog das Gesicht, aber saß schon und stopfte sich den Mund voll, bevor sie mit einem Glas Bier für sich und einer Limo für ihn aus der Küche zurück war.
    »Was is’n hochgegangen?« Er kaute hastig. »Gab’s Tote?«
    »Gott sei Dank nicht.« Sie versuchte, sich von seinem deutlich enttäuschten Blick nicht deprimieren zu lassen. »Aber es hat den Campanile zerstört – du weißt schon, den Turm mitten auf dem Campus.«
    »Megachizz! Wer war’s? Zulu Mamba?«
    »Man weiß es nicht. Aber mir hat’s Angst gemacht.«
    »Bei mir in der Schule ist vorige Woche auch ’ne Bombe losgegangen.«
    »Was? Davon hast du kein Wort erzählt!«
    Er schnitt eine genervte Grimasse und wischte sich das Fett vom Kinn. »Doch nicht so eine. Im SchulNetz. Sabotage. Es hieß, ein paar Typen aus der letzten Klasse hätten sich einen Abgangsjux gemacht.«
    »Du redest von einem Systemabsturz im Netz.« Einen Moment lang fragte sie sich, ob Stephen eigentlich der Unterschied zwischen dem Netz und dem wirklichen Leben klar war. Er ist erst elf, sagte sie sich. Was außerhalb seines engen Horizonts passiert, ist noch nicht sehr real. »Die Bombe, die heute in der TH hochgegangen ist, hätte Hunderte von Menschen töten können. Richtig tot.«
    »Ich weiß. Aber bei dem Crash im SchulNetz sind eine Menge Makes und sogar ein paar höhere Constellations draufgegangen, mit Backups und allem. Die kommen auch nie wieder.« Er nahm sich aus der Reisschüssel eine zweite Portion.
    Renie seufzte. Makes, Constellations – wenn sie nicht selber eine netzerfahrene Dozentin wäre, würde sie wahrscheinlich nur Bahnhof verstehen, wenn sie sich mit ihrem Bruder unterhielt. »Erzähl mir, was du sonst noch getrieben hast. Hast du mal in

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