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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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dieser alte Mann? Und wer bist du?«
    Sie trat an den Rand des Käfigs und umklammerte mit ihren schlanken Fingern die Stäbe. »Geh! Geh sofort!« Aber ihr Blick war gierig, als wollte sie sich ein Erinnerungsbild von ihm einprägen, das nie verblassen würde. »Du bist verletzt – an deinen Sachen klebt Blut.«
    Paul sah an sich hinunter. »Altes Blut. Wer bist du?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Niemand.« Sie zögerte, und in ihrem Gesicht arbeitete es, als ob sie etwas Schockierendes oder Gefährliches sagen wollte, aber der Augenblick ging vorbei. »Ich bin niemand. Du mußt verschwinden, bevor der Alte Mann zurückkommt.«
    »Aber was ist das hier für ein Ort? Wo bin ich? Ich habe lauter Fragen, Fragen über Fragen.«
    »Du darfst hier nicht sein. Nur Geister besuchen mich hier – und die bösen Werkzeuge des Alten Mannes. Er sagt, sie sollen mir Gesellschaft leisten, aber manche von ihnen haben Zähne und einen sehr ausgefallenen Humor. Wabbelsack und Nickelblech – das sind die grausamsten.«
    Im Überschwang seines Gefühls trat Paul plötzlich vor und faßte ihre um das Gitter gelegte Hand. Ihre Haut war kühl, und ihr Gesicht war ganz nah. »Du bist eine Gefangene. Ich werde dich befreien.«
    Sie riß ihre Hand weg. »Außerhalb dieses Käfigs kann ich nicht überleben. Und du wirst nicht überleben, wenn der Alte Mann dich hier findet. Bist du hinter dem Gral her? Du wirst ihn hier nicht finden – dies ist nur ein Schattenort.«
    Paul schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ich weiß nichts von einem Gral.« Aber noch während er das sagte, erkannte er, daß das nicht die volle Wahrheit war: Das Wort löste tief in seinem Innern ein Echo aus, berührte Stellen, an die er noch nicht herankam. Gral. Irgend etwas, es bedeutete irgend etwas …
    »Begreifst du denn nicht?« rief die Vogelfrau, und glänzende Federn plusterten und sträubten sich vor Zorn um ihren Hals. »Ich bin keiner der Hüter. Ich habe nichts vor dir zu verbergen, und ich will nicht… ich will nicht, daß dir ein Leid geschieht. Geh, du Narr! Selbst wenn du ihn dir nehmen könntest, würde der Alte Mann dich doch finden, wo du auch hingingest. Er würde dich zur Strecke bringen, auch wenn du den Weißen Ozean überquertest.«
    Paul fühlte, wie ihre Angst ihm entgegenschlug, und einen Moment lang war er überwältigt, unfähig zu sprechen oder sich zu bewegen. Sie ängstigte sich seinetwegen. Dieser gefangene Engel empfand etwas … für ihn.
    Und der Gral, was das auch sein mochte – er fühlte eine Ahnung davon, fühlte sie knapp außer seiner Reichweite schwimmen wie einen der bunten Fische…
    Ein fürchterliches Zischen, laut wie tausend Schlangen, rührte die Blätter ringsherum auf. Die Vogelfrau erschrak und wich in die Mitte ihres Käfigs zurück. Gleich darauf erscholl ein schwerer scheppernder Schritt, der die Bäume erbeben ließ, so daß noch mehr Staub aufwirbelte.
    »Das ist er!« ihre Stimme war ein erstickter Schrei. »Er ist zurück!«
    Etwas Riesiges näherte sich schnaufend und polternd wie eine Kriegsmaschine. Ein grelles Licht blitzte durch die Bäume.
    »Versteck dich!« Das nackte Entsetzen in ihrem Flüstern ließ sein Herz hämmern. »Er wird dir das Mark aus den Knochen saugen!«
    Der Lärm wurde lauter; sogar die Mauern bebten und der Boden wackelte. Paul tat einen Schritt, dann stolperte er und sank in die Knie, denn das Grauen brach über ihn herein wie eine schwarze Welle. Er kroch dorthin, wo der Wildwuchs am dichtesten war, und die Blätter, die ihm entgegenklatschten, schmierten ihm Staub und Nässe ins Gesicht.
    Ein lautes Knarren erscholl wie von mächtigen Scharnieren, dann verbreitete sich der Geruch eines Gewitters im Raum. Paul hielt sich die Augen zu.
    »ICH BIN WIEDER DA.« Die Stimme des Alten Mannes war laut wie Kanonenfeuer und genauso dröhnend unmenschlich. »UND WO BLEIBT DEIN LIED ZU MEINER BEGRÜSSUNG?«
    Die lange Stille wurde nur von dem Zischen unterbrochen, das wie entweichender Dampf klang. Schließlich antwortete die Vogelfrau, leise und zittrig.
    »Ich habe dich nicht so früh zurückerwartet. Ich war nicht darauf vorbereitet.«
    »UND WAS HAST DU ZU TUN, AUSSER DICH AUF MEINE RÜCKKEHR VORZUBEREITEN?« Wieder ertönten krachende Schritte und zeigten das Näherkommen des Alten Mannes an. »DU WIRKST GANZ AUFGELÖST, MEINE NACHTIGALL. IST WABBELSACK GROB MIT DIR UMGESPRUNGEN?«
    »Nein! Nein, ich … ich fühle mich heute nicht wohl.«
    »DAS ÜBERRASCHT MICH NICHT. ES LIEGT EIN

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