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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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verpassen können, dann hätten wir wenigstens ein bißchen Frieden.«
    Paul nickte. Schon das war eine Anstrengung.
    Sein Gefährte reckte das Kinn hoch und ließ ein Rauchfähnchen entweichen, das sich um den Rand seines Helms ringelte und sich vor dem stumpfen Morgenhimmel in Luft auflöste. »Hast du je das Gefühl…?«
    »Gefühl?«
    »Daß es ein Irrtum ist.« Der Fremde bedeutete mit einer Kopfbewegung die Schützengräben, die deutschen Kanonen, die ganze Westfront. »Daß Gott auf und davon ist oder ein Nickerchen macht oder sonstwas. Hoffst du nicht auch manchmal, daß er eines Tages runterschaut und sieht, was hier los ist, und … und was dagegen unternimmt?«
    Paul nickte, obwohl er sich die Sache noch nie so genau überlegt hatte. Aber er hatte die Leere des ewig grauen Himmels empfunden, und hin und wieder hatte er das merkwürdige Gefühl gehabt, aus weiter Ferne auf das Blut und den Schlamm hinunterzuschauen und die mörderischen Kampfhandlungen mit dem inneren Abstand eines Mannes zu betrachten, der vor einem Ameisenhaufen steht. Gott konnte nicht zuschauen, soviel war sicher; wenn doch, und wenn er die Dinge gesehen hatte, die Paul Jonas gesehen hatte – Männer, die tot waren, aber es noch nicht wußten, sondern hektisch versuchten, ihre hervorquellenden Eingeweide in ihre Feldjacken zurückzustopfen; geschwollene und fliegenbesudelte Leichen, die tagelang unbestattet wenige Meter von Freunden entfernt lagen, mit denen sie gesungen und gelacht hatten –, wenn er das alles gesehen hatte, ohne einzugreifen, dann mußte er verrückt sein.
    Aber Paul hatte noch niemals auch nur einen Moment lang geglaubt, daß Gott die winzigen Kreaturen, die sich zu Tausenden auf einem zerbombten Schlammfeld abschlachteten, retten würde. Das war einfach zu märchenhaft. Bettelknaben heirateten keine Prinzessinnen; sie starben in verschneiten Straßen oder dunklen Gassen … oder in schlammigen Schützengräben in Frankreich, während der alte Papa Gott sich gründlich ausschlief.
    Er raffte sich zu einer Frage auf. »Irgendwas gehört?«
    Der Fremde zog inbrünstig an seiner Zigarette, ohne sich darum zu kümmern, daß die Glut an seinen schlammigen Fingern brannte, und seufzte. »Alles. Nichts. Das Übliche. Der Fritz bricht im Süden durch und wird schnurstracks bis Paris vorstoßen. Oder die Yanks sind jetzt dort, und wir werden sie aufrollen wie nichts und im Juni in Berlin einmarschieren. Die geflügelte Siegesgöttin von Samodingsbums ist am Himmel über Flandern erschienen, dabei hat sie ein Flammenschwert geschwenkt und den Hootchycootchy getanzt. Alles Scheiße.«
    »Alles Scheiße«, pflichtete Paul bei. Er zog nochmal an seiner Zigarette und ließ sie dann in eine Pfütze fallen. Traurig sah er zu, wie schlammiges Wasser das Papier durchtränkte und die letzten Krümel Tabak darin schwammen. Wie viele Zigaretten würde er noch rauchen, bevor der Tod ihn traf? Ein Dutzend? Hundert? Oder war das vielleicht seine letzte? Er hob das Papier auf und zerknüllte es zwischen Finger und Daumen zu einem festen Kügelchen.
    »Danke, Kamerad.« Der Fremde wälzte sich herum und kroch schon durch den Graben davon, als er noch etwas Seltsames über die Schulter rief. »Halt dich bedeckt. Überleg dir mal, wie du rauskommst. Wie du wirklich raus kommst.«
    Paul erhob die Hand zum Abschiedsgruß, obwohl der Mann ihn gar nicht sehen konnte. Der verwundete Soldat oben brüllte schon wieder, wortlose grunzende Schreie, die sich anhörten, als ob etwas Unmenschliches in den Geburtswehen läge.
    Unmittelbar darauf, wie aufgeweckt von einer dämonischen Anrufung, nahmen die Geschütze das Feuer wieder auf.
     
    Paul biß die Zähne zusammen und versuchte sich die Ohren zuzuhalten, aber immer noch konnte er den Mann schreien hören; die krächzende Stimme war wie ein heißer Draht, der zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus ging und dabei hin und her sägte. Er hatte in den letzten zwei Tagen vielleicht drei Stunden Schlaf ergattert, und die rasch näherrückende Nacht würde bestimmt noch schlimmer werden. Warum waren keine Krankenträger losgelaufen, um den Verwundeten zu holen? Die Geschütze schwiegen seit mindestens einer Stunde.
    Aber als er darüber nachdachte, ging Paul auf, daß er außer dem Mann, der ihn um Feuer gebeten hatte, niemanden gesehen hatte, seit sie alle heute morgen aus den vorderen Gräben geflohen waren. Er hatte angenommen, daß nur ein paar Biegungen weiter noch andere saßen, und der Mann

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