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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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schlanken Türme sich zu strecken und zu verzittern, wie durch das Wasser eines Bergsees gesehen. Dennoch war es offensichtlich ein Schloß, nicht bloß ein trügerisches Zusammenspiel von Wolken und Sonne; bunte Fahnen tanzten an den Spitzen der steilen Türmchen, und das mächtige Tor mit dem Fallgitter war ein grinsender Mund, durch den man ins Dunkle blickte.
    Er lachte plötzlich abrupt, doch seine Augen füllten sich mit Tränen. Es war schön. Es war furchterregend. Nach der großen grauen Leere und der Halbwelt der Wolken war es zu leuchtend, zu stark, beinahe zu real.
    Und doch war er genau darauf zugeklettert: Es rief ihn so deutlich, als ob es eine Stimme hätte – so wie die düstere Ahnung eines auf ihn wartenden unausweichlichen Etwas ihn getrieben hatte, den Baum zu erklimmen.
    Es gab die ganz schwache Andeutung eines Pfades über das Zuckerwattefeld, einen stärkeren Strich Weiß, der vom Baum ausging und sich auf das ferne Schloßtor zuschlängelte. Er kletterte das letzte Stück, bis seine Füße auf gleicher Höhe mit der Wolkenfläche waren, zögerte einen Moment, um das heftige, schnelle Schlagen seines Herzens auszukosten, und trat dann vom Ast. Eine schreckliche Sekunde lang gab das Weiße nach, aber nur wenig. Er balancierte mit wedelnden Armen, bis er feststellte, daß es nicht schlimmer war, als auf einer Matratze zu stehen.
    Er ging los.
    Das Schloß wurde größer, je näher er kam. Wenn Paul noch irgendwelche Zweifel daran gehabt hätte, daß er in einer Geschichte und nicht an einem realen Ort war, hätte der immer klarer werdende Anblick seines Ziels sie vertrieben. Es war ganz deutlich etwas, das jemand erfunden hatte.
    Sicher, es war real und recht solid – doch was hieß das schon für einen Mann, der über die Wolken ging? Aber es war real, real wie etwas, woran man lange geglaubt, aber was man nie gesehen hat. Es hatte die Form eines Schlosses – es war so sehr ein Schloß, wie es überhaupt nur möglich war –, aber es war so wenig eine mittelalterliche Feste, wie es ein Stuhl oder ein Glas Bier war. Es war die Idee eines Schlosses, erkannte Paul, so etwas wie ein platonisches Ideal, unbefleckt von den schmuddeligen Realitäten irgendwelcher Mauern und Gräben oder feudaler Kriege.
    Platonisches Ideal? Er hatte keine Ahnung, wie er darauf gekommen war. Erinnerungen schwammen dicht unter der Oberfläche seines Bewußtseins, näher denn je, aber immer noch so seltsam unscharf wie die vieltürmige Vision dort vor ihm.
    Er schritt unter der regungslosen Sonne dahin, während Wolkenfähnchen von seinen Fersen aufstoben wie Rauch.
    Das Tor stand offen, sah aber nicht gerade einladend aus. Im Kontrast zu dem diffusen Gleißen der Türme war der Eingang tief, schwarz und leer. Paul blieb eine Zeitlang vor dem unheimlichen Loch stehen, denn das Blut raste in seinen Adern und seine Selbstschutzreflexe wollten ihn dazu drängen umzukehren, doch er wußte, daß er eintreten mußte. Obwohl er sich noch nackter fühlte als vorher unter dem Granatenhagel, mit dem der ganze irrsinnige Traum angefangen hatte, holte er schließlich tief Luft und schritt hindurch.
    Das mächtige steinerne Gelaß hinter dem Tor war eigentümlich kahl, der einzige Schmuck ein einzelnes großes Banner, Rot mit Schwarz und Gold bestickt, das an der gegenüberliegenden Wand hing. Darauf war eine Vase oder ein Kelch abgebildet, woraus zwei verschlungene Rosen wuchsen, und über den Blumen eine Krone. Unter dem Bild stand die Inschrift »Ad Aeternum«.
    Als er darauf zutrat, um es genauer zu betrachten, hallten seine Schritte nach dem dämpfenden Wolkenteppich so laut durch den leeren Saal, daß er erschrak. Er nahm sicher an, jemand würde nachsehen kommen, wer eingetreten war, aber die Türen an beiden Enden des Saales blieben geschlossen, und kein anderer Laut gesellte sich zu dem ersterbenden Echo.
    Es fiel schwer, das Banner lange anzuschauen. Jeder einzelne schwarze und goldene Faden schien sich zu bewegen, so daß ihm das ganze Bild verschwommen vor den Augen tanzte. Erst als er fast bis zum Eingang zurücktrat, sah er es wieder deutlich, aber trotzdem verriet es ihm nichts über das Schloß und seine Bewohner.
    Paul musterte die Türen an den beiden Enden. Es gab kaum einen Anhaltspunkt, zwischen ihnen zu wählen, und so wandte er sich der zur Linken zu. Obwohl sie höchstens zwanzig Schritte entfernt zu sein schien, brauchte er überraschend lange, um sie zu erreichen. Paul schaute zurück. Das Portal

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