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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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unausweichlichen Baum, der durch die Wolken in den Himmel wächst? Man steigt hinauf.
     
     
    > Es war nicht so schwierig, wie er erwartet hatte. Zwar standen bis dicht unter den Wolkenbäuchen keine Äste vom Stamm ab, aber die schiere Riesigkeit des Baums half ihm; die Rinde war narbig und zerklüftet wie die Haut einer ungeheuren Schlange und bot Zehen und Händen hervorragend Halt. Einige der Höcker waren groß genug, um eine Sitzfläche zu bieten, so daß er relativ sicher und bequem verschnaufen konnte.
    Trotzdem war es nicht einfach. Obwohl es an diesem zeitlosen, sonnenlosen Ort schwer zu sagen war, hatte er, als er den ersten Ast erreichte, das Gefühl, schon wenigstens einen halben Tag geklettert zu sein. Der ausladende und nach oben schwingende Ast war breit wie eine Landstraße, und wo auch er in den Wolken verschwand, erblickte Paul die ersten undeutlichen Umrisse von Blättern.
    Er legte sich an der Abgabelung des Astes vom Stamm hin und versuchte zu schlafen, aber obwohl er sehr müde war, wollte der Schlaf noch immer nicht kommen. Als er sich ein wenig ausgeruht hatte, erhob er sich und kletterte weiter.
    Nach einer Weile wurde die Luft kühler, und er spürte den feuchten Anhauch der Wolken. Der Himmel rings um den großen Baum wurde diesiger und verschleierte die Enden der Äste. Im fernen Laubwerk über Paul hingen riesige, schattenhafte Gebilde, aber er wußte nicht, was sie waren. Nach einer weiteren halben Stunde Klettern gaben sie sich als gigantische Äpfel zu erkennen, jeder so groß wie ein Sperrballon.
    Beim Höhersteigen wurde der Nebel immer dichter, bis Paul von einer Phantomwelt aus Ästen und treibenden, zerrissenen Wolkenschwaden umgeben war, ganz als kraxelte er in der Takelage eines Geisterschiffs. Kein Laut außer dem Knirschen und Kratzen der Rinde unter seinen Füßen drang an seine Ohren. Brisen kühlten den dünnen Schweiß an seiner Stirn, aber keine blies stark genug, um die großen, flachen Blätter erzittern zu lassen.
    Stille und Nebelfetzen. Der große Stamm und seine Umhüllung aus belaubten Ästen über und unter ihm, eine Welt für sich. Paul kletterte weiter.
    Die Wolken wurden jetzt noch dichter, und er spürte, wie das Licht sich veränderte: Etwas Warmes brachte die Schwaden zum Glühen, wie eine Lampe hinter dicken Vorhängen. Er ruhte sich abermals aus und überlegte, wie lange er wohl fiele, wenn er neben den Ast treten würde, auf dem er saß. Er zupfte sich einen losen Knopf von der Hemdmanschette und ließ ihn fallen, sah zu, wie er durch die Luftströmungen hinabtrudelte, bis er lautlos unter ihm in den Wolken verschwand.
    Später – er hatte keine Vorstellung, wie viel später – merkte er, daß es heller wurde, je höher er kam. Die graue Rinde zeigte erste Anzeichen anderer Farben, sandige Beige- und blasse Gelbtöne. Die Oberseiten der Äste wirkten abgeplattet durch das neue, grellere Licht, und der Dunst ringsherum gleißte und funkelte, als ob zwischen den einzelnen Tröpfchen winzige Regenbogen spielten.
    Der Wolkendunst war hier so dicht, daß er Paul am Klettern hinderte: Er schlang sich in triefenden Ranken um sein Gesicht, machte die Griff- und Trittstellen glitschig, beschwerte seine Sachen und zerrte tückisch an ihm, wenn er schwierige Handwechsel durchführte. Er dachte kurz daran aufzugeben, aber außer wieder nach unten konnte er nirgendwo hin. Lieber einen unangenehm raschen Absturz riskieren, als die langsamere Alternative wählen, die nur ins ewige Nichts auf der grauen Ebene dort unten führen konnte.
    Wie dem auch sei, dachte Paul, wenn er schon tot war, konnte er nicht noch einmal sterben. Und wenn er am Leben war, dann war er Teil eines Märchens, und so früh am Anfang kam bestimmt niemand um.
    Die Wolken wurden dichter; die letzten hundert Meter seines Aufstiegs hätte er durch modernden Musselin klettern können. Wegen des klammen Widerstands merkte er gar nicht, wie hell die Welt wurde, doch als er sich durch die letzten Wolken schob und blinzelnd den Kopf hob, befand er sich auf einmal unter einer blendenden, messingfarbenen Sonne und einem wolkenlosen, reinblauen Himmel.
    Keine Wolken über ihm, aber Wolken überall sonst; die Oberseite der großen schaumigen Masse, durch die er soeben geklettert war, erstreckte sich vor ihm wie eine weiße Wiese, ein meilenweites buckliges Feld aus Wolkenwatte. Und in der Ferne, im strahlenden Sonnenlicht glänzend … ein Schloß.
    Während Paul es anstarrte, schienen die hellen,

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