Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Wurzel und schwang sich auf den Rand der Feldschanze. Er hatte seine Waffe dabei. Er wollte den fortwährend schreienden Mann umbringen. Viel mehr wußte er nicht.
Irgendwo kam die Sonne hoch, obwohl Paul keine Ahnung hatte, wo genau das sein mochte: die entstehende Helligkeit war gering und über eine weite, matte Himmelsfläche verschmiert. Unter diesem Himmel war alles grau. Schlamm und Wasser. Er wußte, daß die flachen Stellen das Wasser waren, also mußte alles andere Schlamm sein, bis auf die hohen Dinger vielleicht. Ja, das waren Bäume, erinnerte er sich. Waren Bäume gewesen.
Paul stand auf und drehte sich langsam im Kreis. Die Welt ging in allen Richtungen nur wenige hundert Meter weit, bevor sie im Dunst endete. Er fühlte sich mitten in einem leeren Raum ausgesetzt, so als hätte er sich versehentlich auf eine Bühne verirrt und stände jetzt vor einem schweigenden, erwartungsvollen Publikum.
Doch er war nicht ganz allein. Irgendwo im Leeren stand ein einsamer Baum, eine krallende Hand mit einem verdrehten Stacheldrahtarmband. Etwas Dunkles hing in seinen entblößten Ästen. Paul zog den Revolver und stolperte darauf zu.
Eine menschliche Gestalt hing kopfunter im Baum wie eine weggeworfene Marionette, ein Bein in dem spitzen Winkel zwischen Ast und Stamm verklemmt. Alle ihre Gliedmaßen schienen gebrochen zu sein, und die Arme baumelten mit greifenden Fingern nach unten, als ob der Modder der Himmel wäre und sie zu fliegen gedächte. Die Vorderseite des Kopfes war eine zerfetzte, konturlose Masse, rot und schwarz verbrannt und grau, bis auf ein hell glotzendes gelbes Auge, irr und starr wie ein Vogelauge, das sein langsames Näherkommen beobachtete.
»Ich bin draußen«, sagte Paul. Er hob die Waffe, aber der Mann schrie gerade nicht.
Ein Loch ging in dem verwüsteten Gesicht auf. Es redete. »Endlich kommst du. Ich habe auf dich gewartet.«
Paul stierte. Der Revolvergriff war glitschig in seinen Fingern. Sein Arm zitterte vor Anstrengung, oben zu bleiben.
»Gewartet?«
»Gewartet. So lange gewartet.« Der Mund, leer bis auf ein paar rot eingelegte weiße Splitter, verzog sich zu einem umgekehrten Grinsen. »Hast du je das Gefühl…?«
Paul zuckte zusammen, als das Schreien wieder losging. Aber es konnte nicht der sterbende Mann sein – dies hier war der sterbende Mann. Demnach …
»Gefühl?« fragte er und blickte auf.
Die dunkle Form stürzte aus dem Himmel auf ihn zu, ein schwarzes Loch in der stumpfgrauen Luft; sie pfiff im Fallen. Der dumpfe Knall der Haubitze folgte einen Moment später, als ob die Zeit sich zurückgewandt und sich selbst in den Schwanz gebissen hätte.
»Daß es ein Irrtum ist«, sagte der hängende Mann.
Und dann schlug die Granate ein, und die Welt klappte zusammen: Kniff für Kniff wurde sie lichterloh brennend immer kleiner eingefaltet und dann an den Kanten plattgedrückt, bis alles verschwunden war.
> Nach Pauls Tod wurde alles noch komplizierter.
Er war natürlich tot, und er wußte es auch. Was hätte er sonst sein sollen? Er hatte das Haubitzengeschoß vom Himmel auf sich niedergehen sehen, einen flügellosen, augenlosen, atemberaubend modernen Todesengel, stromlinienförmig und unpersönlich wie ein Hai. Er hatte gespürt, wie ein Stoß durch die Welt ging und die Luft Feuer fing, wie der Sauerstoff aus seinen Lungen floh und diese in seiner Brust zu Kruste verkohlten. Es konnte keinen Zweifel geben, daß er tot war.
Aber warum tat ihm der Kopf weh?
Natürlich ließ sich in einem Leben nach dem Tode, in dem die Strafe für eine verpfuschte Existenz ein ewig hämmernder Kopfschmerz war, ein gewisser Sinn sehen. Ein Sinn der grauenhafteren Art.
Paul schlug die Augen auf und blinzelte vor Helligkeit.
Er saß aufrecht am Rand eines riesigen Kraters – eine unbedingt tödliche Wunde, tief in die schlammige Erde gebohrt. Das Gelände ringsherum war flach und leer. Es gab keine Schützengräben, oder falls doch, waren sie unter dem Auswurf der Explosion begraben; in allen Richtungen sah er nichts als aufgewühlten Schlamm bis zum umschließenden Horizont, wo die Erde selbst im grauschimmernden Dunst verschwamm.
Aber irgend etwas Festes war hinter ihm und gab ihm Halt, und das Druckgefühl im Kreuz und an den Schulterblättern ließ in ihm erste Zweifel aufkommen, ob er sich den Tod nicht zu früh eingebildet hatte. Als er den Kopf in den Nacken legte, um nachzuschauen, rutschte ihm sein Helm über die Augen, so daß er einen Moment lang
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