Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
»Nein, eigentlich nicht.«
»Du fragst dich, an was für einen Irren du wohl geraten bist, was?« Nandi lächelte müde. In dem zunehmenden Licht sah er nicht mehr ganz so schaurig aus. »In der Grube, in der meine Eltern verbrannt worden waren, erfuhr ich, was mein größtes Verbrechen gewesen war. Ich hatte die Sünde begangen zu glauben, daß ich das Maß aller Dinge im Universum sei. Als ich Jahre später eine andere Verbrennungsstätte aufsuchte und mich in der schivaitischen Art auf diese Aufgabe hier vorbereitete – indem ich ein Aghori wurde, wie wir sagen –, erkannte ich, daß selbst die Kinder damals in der Quarantäne, die vor meinen Augen so gräßlich mißbraucht und ermordet worden waren, ein Teil des Leibes Gottes waren. Sogar ihre Mörder waren Gott und verrichteten somit Gottes Werk.«
Pauls Kopf fühlte sich überladen an, überschwer von Gedanken. »Ich verstehe noch immer nicht das geringste, oder wenn doch, dann bin ich anderer Meinung. Wenn Mord Gottes Werk ist, warum gibst du dich dann damit ab, gegen diese Gralsleute zu kämpfen?«
»Weil das meine Aufgabe ist, Paul Jonas. Und aus meinen Handlungen, meinem Widerstand werden weitere Wünsche Gottes sichtbar und manifest werden. Auch die Mitglieder der Gralsbruderschaft verrichten Gottes Werk, genau wie ich, obwohl sie das nicht glauben und zweifellos das Gegenteil für wahr halten. Und ich bin sicher, dasselbe gilt auch für dich.«
Kurz vorher noch hatte Paul, todunglücklich bei dem Gedanken, daß er gejagt wurde, die Vorstellung weit von sich gewiesen, er könnte irgendwie wichtig sein. Aber jetzt, wo dieser Mann ihn als nur eines von vielen Rädchen im unerbittlichen Getriebe des Himmels beschrieb, merkte er, wie er innerlich in die Gegenrichtung ausschlug. Irgendein Stolz in ihm, ein Gefühl, das er nicht schlecht finden, ja nicht einmal neutral betrachten konnte, verwarf das Bild. »Denken alle so wie du?« fragte er schließlich. »Die Leute im Kreis? Sind sie alle Schivaanbeter?«
Zum erstenmal lachte Nandi. »Liebe Güte, nein. Oder vielleicht sollte ich sagen: Lieber Himmel, nein. Wir gehören alle verschiedenen Religionen und Fachrichtungen an. Was wir gemeinsam haben, ist lediglich unser Wissen um das Ewige und der Wille, dem Dienst an ihm unser Leben zu weihen.«
Paul mußte wider Willen grinsen. »Ökumenische. Meine Großmutter sagte immer, Leute wie ihr wären die größte Gefahr, die es gibt.«
»Wie bitte?«
»Schon gut. Nur so eine Redensart in meiner Familie.« Paul blickte auf. Das Eis auf den Höhlenwänden wurde ein bißchen dünner, die Luft ein wenig wärmer. Er ließ die Decke sinken und reckte und streckte sich. »So, und was jetzt? Hier bei uns, meine ich. Wohin fahren wir?«
»In die nächste Simulation«, erwiderte sein Begleiter, während seine schlanken Arme weiter unermüdlich paddelten, fast im Maschinentakt. »Dort werde ich dir den Namen des Mannes sagen, der mein Feind und, wie es scheint, auch deiner ist. Und dann werde ich meiner Wege gehen.«
»Was soll das heißen?«
Nandis Gesicht war wieder hart und zu wie eine verschlossene Tür. »Du kannst nicht mit mir kommen, Paul. Es war mir bestimmt, dir zu begegnen, da bin ich sicher, aber wir dürfen nicht lange zusammenbleiben. Du mußt deinen eigenen Part spielen, wie immer der aussehen mag, und ich meinen. Nur Leute aus dem Kreis können dorthin, wo ich hingehe. Es tut mir leid.«
Der Schock war stark und tat überraschend weh. Nach so langer Einsamkeit hatte er endlich jemanden gefunden, den man, wenn noch nicht als Freund, so doch als Gefährten bezeichnen konnte, und jetzt sollte diese menschliche Verbindung schlagartig wieder gekappt werden. »Aber … aber wo soll ich hin? Soll ich einfach endlos durch diese Simulationen ziehen?« Er fühlte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten, und blinzelte ärgerlich. »Ich bin so müde. Ich will einfach nach Hause. Bitte, hilf mir. Ich will nach Hause.«
Nandis Miene wurde nicht weicher, aber er nahm eine Hand vom Paddel und legte sie leicht auf Pauls Schulter. »Du wirst einen Weg finden, wenn es Gottes Wille ist.«
»Gottes Wille ist mir egal! Die Bruderschaft, dein Kreis, überhaupt alles hier ist mir ganz egal. Ich gehöre nicht hierher.«
»Doch, du gehörst hierher. Ich weiß nicht, wie, aber ich weiß, daß es so ist.« Nandi drückte kurz seinen Arm und zog dann seine Hand zurück.
Paul, der dem anderen Mann nicht noch länger seine Bedürftigkeit zeigen wollte, wandte sich ab und
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