Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
wollen in ihren selbsterfundenen Welten ewig leben.«
»Ewig? Wie wollen sie das anstellen? Du, ich, wir haben beide irgendwo einen Körper, stimmt’s? Du kannst nicht ohne einen Körper leben, ganz gleich, was dein Gehirn sich ausdenken mag. Also wozu soll das alles gut sein? Es ist nichts weiter als ein unglaublich teures Spiel. Solche Leute wollen bloß mehr Zeit haben, weil sie sonst alles haben, was sie brauchen.«
»Wenn ich auf alles, was du da sagst, die Antwort wüßte, hätte ich nicht herkommen müssen.« Sie hatten den Eisblock hinter sich, und Nandi nahm sein gemächliches Paddeln wieder auf.
Paul zog die Decken weg und beugte sich vor. »Na schön, du hast keine Antworten. Aber was machst du hier? Ich habe dir viel erzählt. Was kannst du mir erzählen?«
Nandi schwieg lange, und während dessen war das leise Plätschern des gleichmäßig eintauchenden Paddels das einzige Geräusch, das in der großen Eishöhle zu hören war.
»Ich war ein Wissenschaftler«, sagte er schließlich. »Ein Chemotechniker. Kein sehr bedeutender. Ich leitete lediglich eine Forschungsabteilung eines großen Glasfaserunternehmens in Varanasi, eher bekannt unter dem Namen Benares. Hast du von der Stadt gehört?«
»Von Benares? Das … das war irgendeine wichtige Stadt in Indien. Es gab dort einen Unfall, nicht wahr? Irgendwas Toxisches?«
»Varanasi war und ist die heiligste Stadt, die es gibt. Sie existiert von jeher als ein Juwel der Heiligkeit an den Ufern des Ganges. Aber als ich noch Wissenschaftler war, interessierte mich das nicht. Ich machte meine Arbeit, ich hatte Freunde aus der Arbeit und der Universität, ich trieb mich auf den Straßen herum, sowohl auf den wirklichen Straßen von Varanasi als auch auf den virtuellen Bahnen des Netzes. Es gab Frauen und Drogen und alles andere, womit ein nicht unvermögender junger Mann Geist und Körper beschäftigen kann. Dann geschah der Unfall.
Er ereignete sich in einem staatlichen Labor, aber er hätte genausogut irgendwo anders passieren können. Das Labor war im Vergleich zu sonstigen staatlichen Einrichtungen klein, viel kleiner als das Werk meiner Firma. So klein.«
In der eintretenden Stille fragte Paul: »Und das war der Unfall, von dem ich hörte?«
»Ja. Ein sehr gravierender Fehler. Und dabei war es nur ein kleiner Vorfall in einem kleinen Labor. Man hatte einen virologischen Kampfstoff entweichen lassen. Das Labor arbeitete häufig mit derlei Dingen, wie wir alle, und alle potentiell tödlichen Viren wurden so konstruiert, daß sie sich nur wenige Male reproduzieren konnten, oft genug, um sie zu erforschen, aber nicht öfter. Aber bei der Entwicklung dieses virologischen Kampfstoffs war ein falsches Verfahren angewandt worden, oder die Genmanipulation war vorsätzlich sabotiert worden, oder vielleicht hatte der mutierte Virus selbst eine Resistenz gegen die Sicherheitsvorkehrungen entwickelt. Kein Mensch weiß das. Eine Zentrifuge versagte. Ein Gefäß platzte. Alle Personen im Labor waren nach wenigen Minuten tot. Zur Weiterübertragung kam es deshalb, weil eine Frau aus dem Büro am Eingang lange genug am Leben blieb, um den Zaun zu erreichen, wenige Meter von einer verkehrsreichen Innenstadtstraße entfernt. Ein automatischer Werksalarm rettete wahrscheinlich Millionen das Leben. Aber auch so starben in einem Monat zweihunderttausend Menschen, die meisten in den ersten paar Tagen, bevor ein Virenkiller entwickelt werden konnte. Zusätzlich erschoß die Armee Tausende bei dem Versuch, aus der Quarantäne auszubrechen.«
»Mein Gott, ja, das habe ich gesehen. In den Nachrichtennetzen. Es war … es war schrecklich.« Paul war sich der absoluten Unangemessenheit der Bemerkung bewußt, aber etwas anderes wollte ihm nicht einfallen.
»Ich lebte in dieser Quarantäne. Straße für Straße wurde abgeriegelt. Meine Mutter und mein Vater wohnten nur zwei Häuserblocks weiter – zwei Häuserblocks! –, aber ich konnte nicht zu ihnen. Als sie starben, schmolz ihnen das Fleisch von den Knochen, und sie wurden zusammen mit Hunderten anderer in einem Massengrab verbrannt. Einen Monat lang war der Block, in dem ich wohnte, ein Dschungel. Menschen, die denken, daß sie nur noch Stunden zu leben haben …«
Nandi schüttelte den Kopf. Ein furchtbarer Ausdruck lag in seinen Augen, als sie sich aus dem Schatten, den die Laterne warf, auf Paul richteten. »Ich habe schreckliche Dinge gesehen. Die Kinder, die sich nicht wehren konnten …« Er hielt inne, suchte nach
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