Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
starrte auf den Fluß vor sich. Die Tunnelwände glühten in der Ferne, als würde tief im Eis ein goldenes Licht brennen. »Ist das das Gateway?« fragte er.
»Nein, nur die Sonne der Außenwelt. Aber zum Durchgang ist es nicht mehr weit.«
Paul räusperte sich; er hielt den Blick auf das dunkle Wasser und das näher kommende Tageslicht gerichtet, als er sagte: »Es gibt eine Frau, die mir in meinen Träumen erscheint.«
»In Träumen, die du hier hast? In diesem Netzwerk?«
»Ja. Und in wenigstens einer der Simulationen habe ich sie auch gesehen.«
Er berichtete alles, woran er sich erinnern konnte, von den ersten Träumen bis hin zu den jüngsten, und die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Er beschrieb, wie er ihr leiblich in der Marssimulation begegnet war. Er wiederholte, was sie durch das Neandertalerkind zu ihm gesagt hatte. »Aber ich werde nicht schlau daraus«, schloß er. »Begib dich zum Haus des Irrfahrers und befreie die Weberin – das könnte alles mögliche bedeuten.«
Nandi schwieg eine ganze Weile und überlegte. Das Licht wurde immer heller und warf lange Stalaktitenschatten auf die Decke der Höhle. Plötzlich fing der dunkelhäutige Mann zum zweitenmal zu lachen an.
»Was ist daran so komisch?«
»Vermutlich nur die Tatsache, daß wir Inder unsere Eroberer so lange um ihre britische Kultur beneidet haben, die sie uns zwar aufzwangen, aber in deren vollen Genuß wir dennoch niemals kommen durften. Jetzt hat es den Anschein, als ob eine Ausbildung an der Universität von Varanasi einem solidere Kenntnisse der Klassiker verschafft als ein Studium in England.«
»Was redest du da?« Paul versuchte seinen Zorn zu bezähmen, aber worüber sich der Mann da lustig machte, war schließlich sein Leben. Es mochte armselig und im Augenblick voller Lücken sein, aber es war alles, was er hatte.
»Ich vermute, du bist auf der Suche nach Ithaka, Freund Paul. Das Haus des Irrfahrers befindet sich auf Ithaka.«
Der Höhlenausgang war direkt vor ihnen, und das einfallende Licht überzog die Oberfläche des Flusses mit einem goldenen Film. Paul mußte die Augen zusammenkneifen. »Ithaka …?«
»Menschenskind, hast du nie Homer gelesen? Um das englische Schulsystem ist es noch schlechter bestellt, als ich dachte.« Nandi schien sich köstlich zu amüsieren. Mit schwungvollen Paddelschlägen bugsierte er sie zwischen den Felsen hindurch, die sich vor dem Ausgang der Höhle häuften, und hinaus in den strahlendsten, stechendsten Sonnenschein, den Paul je erlebt zu haben meinte. Als seine geblendeten Augen sich kurz darauf an die Helligkeit zu gewöhnen begannen, sah er die weite Fläche des Ozeans dunkel und still in der Ferne liegen, am Ende der gewundenen Bahn des Flusses durch eine waldige Ebene. Er bemerkte auch, daß die Farbe des Wassers unmittelbar vor ihnen nicht ganz richtig zu sein schien. Da schlug der erste Pfeil ein.
Paul glotzte ungläubig auf den auszitternden Schaft im Bug des Bootes, nur Zentimeter von seiner Hand entfernt. Es hätte sich genausogut um einen völlig neuen, nie gesehenen Gegenstand handeln können, so unbegreiflich erschien ihm der Anblick. Gleich darauf bohrte sich der nächste Pfeil dicht daneben ins Holz, dann schrie Nandi hinter ihm auf.
Paul drehte sich um. Ein Seitenarm, vielleicht der Nebenfluß, den Nandi zuvor erwähnt hatte, rauschte hier aus einem Kiefernwald und mündete in den Alph. Zwei Boote kamen auf diesem kleineren Fluß auf sie zugesaust, noch hundert Meter entfernt, aber rasch aufholend, da sich in jedem ein halbes Dutzend Ruderer in die Riemen legten. Die im Bug des anführenden Bootes stehenden Bogenschützen trugen Seidengewänder, die mit ihren kräftigen, schimmernden Farben die pralle Sonne reflektierten. Einer spannte seinen Bogen, ließ die Sehne los. Eine Sekunde später zischte etwas dicht an Pauls Kopf vorbei.
Nandi hing vornübergebeugt auf der Bank. Ein schlanker schwarzer Schaft steckte in seinem Schenkel, und seine weiten Hosen waren bereits blutgetränkt. »Wie es aussieht, ist der Khan doch zuhause«, sagte er. Sein Gesicht war von dem Schock ganz gelb, aber seine Stimme war kräftig. »Die da sind, denke ich, hinter mir her, nicht hinter dir.«
Paul duckte sich, so tief er konnte, ohne sich direkt hinter Nandi zu verstecken. Die beiden Verfolgerboote hatten den Seitenarm verlassen und fuhren jetzt direkt hinter ihnen auf dem Alph. Weitere Pfeile flitzten vorbei, die nur deshalb nicht trafen, weil die Strömung rauh war und
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