Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
geschubst hast.«
Nandi nickte. »Ja. Ich war zu dem Zeitpunkt schon mehrere Tage dort und hatte ein paar Leute in das Labyrinth gehen, aber nicht mehr herauskommen sehen – vielleicht Mitglieder der Bruderschaft oder ihre Bevollmächtigten. Also untersuchte ich die Sache. Alle Durchgänge, auch die im Fluß, gestatten es berechtigten Benutzern, sich hinzubegeben, wo sie wollen, und im Gegensatz zu denen an den beiden Enden des Flusses führen einen die andern nicht in einer bestimmten Reihenfolge durch das Netzwerk. Aber fast alle Durchgänge haben eine Standardeinstellung, und die bringt einen meistens in eine andere Welt, die demselben Herrn gehört. Glücklicherweise jedoch werden wir bald einen erreichen, durch den wir gänzlich aus den Reichen dieses Mannes hinauskommen.«
»Woher weißt du das alles?« In ihm stieg schon wieder Verzweiflung auf – es gab so viel, was man wissen mußte, bevor man die wichtigsten Fragen auch nur stellen konnte.
»Wir vom Kreis erforschen diese Leute und ihr Treiben schon lange. Ich persönlich bin zwar erst vor kurzem in dieses Netzwerk eingetreten, doch ich bin nicht der erste von uns, der das tut.« Nandi breitete die Hände aus, als böte er Paul etwas an. »Männer und Frauen haben ihr Leben gelassen, um das herauszufinden, was ich dir gerade erzähle.«
Fast ohne sein Wissen waren Pauls Finger an seinen Hals gewandert. »Aber wenn ich in einer Simulation bin, muß ich doch offline gehen können. Warum kann ich dann die Buchse nicht finden? Warum kann ich das verdammte Ding nicht einfach rausziehen?«
Sein Gefährte schaute ernst. »Ich weiß nicht, wie du hierhergekommen bist oder warum, Paul Jonas, oder was dich hier festhält. Aber im Augenblick kann ich ebenfalls nicht hinaus, und auch dafür weiß ich die Ursache nicht. Es macht mir nichts aus – mir war von vorneherein klar, daß ich nicht eher gehen darf, als bis ich meinen Auftrag ausgeführt habe –, aber es muß anderen etwas ausmachen. Das ist einer der Gründe, weswegen wir uns dem Kampf gegen diese Leute verschrieben haben. Ich weiß, es ist ein Klischée der schlimmsten Sorte«, er zog ein spöttisches Gesicht, »aber die Gralsbruderschaft hat sich an Dingen vergriffen, die keiner von ihnen voll versteht.«
Ein Stück der Höhlenwand war vor ihnen in den Fluß gerutscht, und Nandi mußte sich darauf konzentrieren, sie zwischen den Eisbrocken hindurchzusteuern, die im Wasser schwammen. Paul kuschelte sich in seine Decken und hatte das vage, aber sichere Gefühl, daß die Zeit knapp war – daß es Fragen gab, die er stellen sollte, und daß es ihm später sehr leid tun würde, wenn sie ihm jetzt nicht einfielen.
Er dachte an die Frau, das einzige, was ihm bis jetzt in diesem ganzen Irrsinn Halt gegeben hatte. Wie paßte sie in das alles hinein?
Aber soll ich diesem Mann alles sagen, restlos alles? Was ist, wenn er in Wirklichkeit selber für diese Gralsleute arbeitet und bloß sein Spiel mit mir treibt? Er betrachtete Nandis schmales Gesicht, die scharfen Züge und erinnerte sich, daß er noch nie in der Lage gewesen war, aufgrund von bloßem Anschauen zu einem brauchbaren Urteil über jemanden zu kommen. Und wenn er bloß ein Verrückter ist? Nehmen wir an, das hier ist eine Simulation, aber vielleicht ist dieser ganze Gralskram ja bloß eine irrsinnige Verschwörungstheorie. Woher soll ich wissen, ob er nicht selber ein Replikant ist? Vielleicht gehört das hier mit zum Spiel.
Paul zog die Decke fester um sich. Solche Gedanken brachten ihn nicht weiter. Vor wenigen Tagen noch war er wie blind im Nebel herumgetappt; jetzt hatte er wenigstens eine Grundlage, um rational zu überlegen, um Entscheidungen zu treffen. Er konnte an allem und jedem zweifeln, aber was Nandi Paradivasch sagte, leuchtete ein: Wenn er, Paul Jonas, nicht vollkommen den Verstand verloren hatte, dann war eine Simulation das einzige vernünftige Erklärungsmodell für alles, was ihm widerfahren war. Aber Simulationen dieser Güte, die von der Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden waren, mußten etwas Neues sein. Nur Leute mit einer Macht, wie Nandi sie beschrieben hatte, konnten sich einen derartigen qualitativen Sprung leisten.
»Was wollen sie eigentlich?« fragte er unvermittelt. »Diese Gralsleute, was wollen sie? Dieses Ding muß doch Billionen kosten. Was sage ich? Billiarden!«
»Wie ich schon sagte, sie möchten Götter werden.« Nandi schob mit seinem langen Paddel einen kleinen Brocken Treibeis zur Seite. »Sie
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