Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
solche schrecklichen Sachen zu sagen, blieb er zusammengekauert im Sand liegen, bis der erste Tagesschimmer den östlichen Himmel erhellte.
Im grauen Morgenlicht sahen sie, daß ihr Gefangener im großen und ganzen die Gestalt eines hochgewachsenen und sehnigen Menschen mit fleckiger graubrauner Haut hatte und nur mit einem schmutzigen Lendenschurz bekleidet war. Doch anstelle eines Männerkopfes hatte er hundartige, spitze Ohren, die am Rand eingerissen waren, und eine graue, pelzige Schnauze. Als Orlando die imposanten gelben Fänge sah, die blitzend zum Vorschein kamen, wenn sich der Gefangene mit seiner langen Zunge die Lippen leckte, hielt er ihm das Schwert noch dichter an die Kehle.
»Es ist ein Werwolf«, sagte Fredericks ruhig. Sie hatten beide in Mittland viel Schlimmeres gesehen. »Ziemlich traurig sieht er aus.«
»Tötet es nicht!« Die Kreatur stieß ihr Maul in den Sand vor Orlandos Füßen, so daß die übrigen Worte schwer zu verstehen waren. »Es wird fortgehen, zurück in das heiße rote Land! Es hat versprochen, das schwarze Land nie wieder heimzusuchen, und es wird in die Wüste zurückkehren, auch wenn es hungrig und einsam ist!« Ein bernsteingelbes Auge lugte nach oben, um zu sehen, welche Wirkung dieser Appell hatte. »Es ist nur gekommen, um zu sehen, wer die mächtigen Fremden sein mögen, die so kühn die heiligen Wasser des Vaters Nil beschaffen.«
»Der Nil?« sagte Orlando. »Dann sind wir also in Ägypten.« Er betrachtete das vor ihm kniende knochige Geschöpf und merkte, wie sich die Erinnerung regte. Er hatte sich nicht umsonst sein ganzes junges Leben lang mit allem beschäftigt, was in irgendeiner Beziehung zum Tod stand. »Und der hier muß der mit dem Schakalkopf sein – wie hieß er noch gleich? Ah, Anubis, der Totengott.«
»Neiiiiiiiin!« Der Gefangene wälzte sich wieder am Boden und bewarf sich mit Sand wie ein Krebs, der sich Schutz suchend ein Loch gräbt. »Sprecht nicht diesen verfluchten Namen aus! Nennt nicht den Schurken, der Upuaut das Erstgeburtsrecht stahl!«
»Weia, ’tschuldigung«, sagte Orlando. »Hab ich wohl daneben getippt.«
Das Wesen, das sich Upuaut nannte, rollte sich auf den Rücken, wobei es seine langen Arme und Beine schützend über dem Bauch einzog. »Wenn ihr es am Leben laßt, wird es euch die Geheimnisse des roten Landes verraten. Es lebt seit vielen Monden hier. Es weiß, wo sich die fetten Käfer verstecken. Es weiß, wo zur Mitternacht die Blumen blühen, die köstlich schmeckenden Blumen.«
Fredericks runzelte die Stirn. »Die Sorte kenn ich. Er wartet ab, bis wir schlafen, dann schlitzt er uns die Kehle auf. Komm, töten wir ihn einfach oder so, und sehen wir zu, daß wir weiterkommen.«
»Nein, das erinnert mich an was. Bei Tolkien … Den solltest du wirklich mal lesen, Fredericks, das kannst du mir glauben. Lies mal Text. Bei dem interaktiven Kram gehen die ganzen guten Sachen baden.«
»Worte, ein Haufen Worte«, entgegnete Fredericks mit stolzer Verachtung. »Voll langsam.«
Orlando ließ sich nicht irremachen. »Also, bei Tolkien meint jemand, sie müßten einen Kerl wie den hier töten, aber Frodo, der Ringträger, sagt nein. ›Mitleid hemmte ihm die Hand‹, oder so ähnlich. Und es war wichtig.« Er konnte sich im Augenblick nicht auf die genaue Situation besinnen, aber er wußte, daß er recht hatte.
»Das hier ist aber kein Spiel, und es ist keine Geschichte, Gardiner«, wies Fredericks ihn unwillig zurecht. »Hier geht’s um unser Leben. Schau dir an, was dieser haarige Kotzblocker für Zähne hat. Spinnst du?«
»Wenn wir dich am Leben lassen«, fragte Orlando den knienden Gefangenen, »wirst du uns dann führen? Versprichst du, uns nichts zu tun und es auch nicht zu versuchen?«
»Es wird tun, wie geheißen.« Am ganzen langen Leib mit Sand besudelt setzte Upuaut sich auf; seine Augen funkelten. »Es wird euer Sklave sein.«
Orlando hatte das sichere Gefühl, daß noch etwas fehlte. Gleich darauf fiel es ihm ein. »Du mußt bei etwas schwören, das dir wichtig ist. Was ist das Heiligste, bei dem du schwören kannst?«
Einen Moment lang straffte sich Upuaut, und ein entrückter Blick umflorte die gelben Augen. »Es wird bei seiner Göttlichkeit schwören.«
»Du bist ein Gott?« fragte Fredericks mit kraus gezogener Lippe.
»Es ist ganz zweifellos ein Gott«, erklärte der Gefangene ein wenig eingeschnappt. »Selbstverständlich ist es das. Einst, bevor es sich den Zorn des Osiris zuzog, war es ein
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