Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
glitten. Die Funken verglühten, und jetzt erblickten sie eine unregelmäßige Öffnung, durch die helles, rotgoldenes Licht einfiel. Mit zusammengekniffenen Augen spähte Orlando gegen den grellen Schein an, um zu erkennen, was vor ihnen lag.
Als Fredericks zurückschaute, fielen ihm fast die Augen aus dem Kopf. »Orlando!« schrie er. Seine Stimme war nahezu unhörbar – in das Rauschen und Tosen des Flusses war noch ein zusätzlicher Ton gekommen, ein Chor singender Stimmen, die laut dröhnten und hallten, doch deren Worte in dem Tumult nicht zu verstehen waren. »Orlando!« brüllte Fredericks wieder. »Sieh doch!«
Er blickte über die Schulter und sah in der Dunkelheit der ungeheuren Höhle hinter ihnen – rasch entschwindend, aber dennoch ganz deutlich – eine riesenhafte Gestalt, gut hundertmal so groß wie sie. Sie strahlte ein blaues Licht aus, doch der Fluß, der sich aus dem von ihr gehaltenen Krug ergoß, funkelte noch heller. Der Riese hatte die runden Brüste und Hüften einer Frau, aber sein Kinn zierte ein steifer Bart, und er hatte Muskeln wie ein Mann. Auf dem großen Kopf trug er einen Kranz nickender Lotusblumen. Einen Moment lang schien der Riese sie zu sehen, und die gewaltigen, schwarz geschminkten Augen blinzelten einmal, doch im Nu wurden sie aus der Höhle in den Sonnenschein befördert, und hinter ihnen war nichts mehr zu erkennen als das rote Gestein eines Berges und die Klamm, aus der der Fluß in den dunstigen Morgen hinausströmte.
Orlando wandte sich flußabwärts. Seine stibitzten Piratensachen waren fort. Auch ihr Boot hatte sich verändert, es war breiter und flacher geworden, und ihr Paddel war jetzt eine einfache Stange, doch er bemerkte das kaum. Vor ihnen verlief sich der Fluß in der unermeßlichen Weite einer Wüste. Außer graublauen Bergen, die sich zu beiden Seiten undeutlich in der Ferne abzeichneten, durchstießen nur ein paar in der Hitze flimmernde einsame Palmen den geraden Strich des Horizonts. Die noch niedrige Morgensonne war bereits eine lodernde weiße Scheibe, die den weiten, wolkenlosen Himmel beherrschte.
Schon perlte der erste Schweiß auf der dunklen Haut des Thargorsims. Fredericks drehte sich ihm zu, und der Blick auf dem Gesicht des Diebes verhieß deutlich, daß die nächste Verkündung des Offensichtlichen und doch Unglaublichen bevorstand.
»Wenn du jetzt sagst, es ist eine Wüste«, warnte Orlando ihn, »muß ich dich leider ermorden.«
»Ilions Mauern«, sagte Orlando und brach damit ein langes Schweigen. »Dieses Schneewittchen meinte, wir würden Renie und die andern bei Sonnenuntergang auf Ilions Mauern finden. Was immer das heißen mag.«
»Es ist megabescheuert, so Sachen nicht im Netz nachgucken zu können.« Fredericks lehnte sich über den niedrigen Rand des Bootes und ließ die Finger in das träge dahinfließende Wasser hängen. »An keinerlei Informationen ranzukommen.«
»Allerdings. Mir fehlt Beezle.«
Sie hatten sich den größten Teil des Tages einfach treiben lassen. Die große rote Wüste war auf beiden Seiten unverändert geblieben, und nur eine hin und wieder am Ufer vorbeiziehende Palme zeigte, daß sie sich überhaupt flußabwärts bewegten. Die lange Bootsstange war ihnen nützlich, wenn sie gelegentlich in seichtes Gewässer kamen und an einer unsichtbaren Sandbank aufliefen, aber um ihre Geschwindigkeit zu steigern, taugte sie gar nichts. Sie hatten auf dem flachen Boden des Bootes ein Segel und darin eingerollt zwei Maststücke entdeckt, aber sie breiteten das Segeltuch als notdürftigen Schutz vor der sengenden Sonne aus und hatten es durchaus nicht eilig, den Schatten, den es spendete, für den zweifelhaften Vorteil der Besegelung aufzugeben, da der Tag so windlos wie erdrückend heiß war.
»Was ist das eigentlich für ein Ding mit dir und diesem Bug?« fragte Fredericks träge. »Wieso hast du keinen der neueren Agenten?«
»Ich weiß nicht. Wir kommen gut miteinander klar.« Orlando legte die Stirn in Falten. »Ich hab nicht gerade einen Haufen anderer Freunde oder so.«
Fredericks blickte hastig auf. »’tschuldigung.«
»Gebongt. Was ist mit dir?«
»Was soll mit mir sein?« Der Ton war leicht mißtrauisch.
»Benutzt du in deinem System einen personifizierten Agenten? Du hast nie einen erwähnt.«
»Nö.« Der Dieb tauchte seine Finger wieder ins Wasser. »Ich hatte mal einen. Es war eine von diesen Miz pSoozis – kannst du dich noch an die erinnern? Aber mein Vater fand das Ding peinlich. Als
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