Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
wir sind alle sehr müde und durcheinander …«, begann Martine.
»Das weiß ich.« Sie drehte sich langsam um die eigene Achse und warf einen prüfenden Blick in die Runde. »Genau deshalb müssen wir jetzt ein paar Sachen erledigen, damit es uns bei der nächsten Gelegenheit nicht wieder so ergeht.« Sie merkte, wie herrisch sie klang, und mäßigte ihren Ton. »Übrigens, Martine, ich fand es sehr beeindruckend, wie du dich vorhin gegen alle andern gestellt hast. Du kannst ja richtig die Zähne zeigen, wenn du willst.«
Die Französin zuckte verlegen mit den Achseln und wandte sich ab.
!Xabbu trat an ihre Seite. »Sag mir, was ich tun kann, um dir zu helfen.«
Emily 22813, wieder wach, aber von ihren Rettern allein gelassen, setzte sich auf. »Diese Frau wollte mich umbringen!«
»Das wissen wir«, sagte Renie. » !Xabbu , wenn es eine Möglichkeit gibt, unter diesen Bedingungen hier ein Feuer zu machen, tu es. Ein Feuer wäre im Moment genau das richtige.«
»Ich will sehen, was sich machen läßt.« Er hoppelte den zusammengestückelten Hügel hinauf.
»Sie wollte mich umbringen!« heulte das Mädchen. »Mich und mein Baby!«
»Emily«, sagte Renie, »wir wissen alle, was gerade passiert ist, und es tut uns furchtbar leid. Und jetzt haben wir einen Haufen Probleme zu knacken, also sei bitte ein einziges Mal so gut und halt den Mund!«
Emilys Mund klappte zu.
!Xabbu fand einige Teile, die Renie nur als Unholz bezeichnen konnte -Drahtgerippestücke, die wie Äste aus versteiftem Fischnetz aussahen. Er baute sie zu einem ordentlichen Haufen auf und schaffte es mit einiger Mühe, Reibungsfunken zu erzeugen, mit denen er dieses fiktive Reisig entzündete und schließlich ein bemerkenswert munteres Unlagerfeuer brennen hatte. Die Flammen wechselten teilweise sehr beunruhigend Farbe und Beschaffenheit und wurden manchmal zu Löchern, die Einblicke in ansonsten nicht vorhandene Tiefen gewährten, aber einerlei wie es aussah, es war ein Lagerfeuer: Es brachte das Environment dazu, ihnen einen Herd der Wärme und ein Zentrum für ihre Aufmerksamkeit zu liefern, genau das, was Renie gewollt hatte.
Genau wie das, was !Xabbu mal über das Finden der eigenen Geschichte sagte, dachte sie, während sie sich die matten, kummervollen Gesichter im Kreis ansah. Wenn man kein reales Feuer haben kann, muß man sich ein Feuer erfinden. Sie schüttelte die nächste große Erschöpfung ab, die wie eine Welle über sie schwappte. Es gab Dinge zu tun, die wichtiger waren als zu schlafen. Auf jeden Fall mußten sie jetzt Wachposten aufstellen, was bedeutete, daß sie die erste Wache übernehmen mußte, obwohl sie so müde war, daß sie das Gefühl hatte, jeden Moment wie ein nasser Sack in sich zusammenzusinken. Wenn du der Held der Geschichte sein willst, sagte sie sich – und irgendwer muß das anscheinend sein –, dann mußt du auch die Arbeit machen.
T4b, dessen Panzer im Licht der seltsamen Flammen funkelte; Emily mit ihrem kleinen, völlig geistesabwesenden Gesicht, viel geheimnisvoller, als sie den Anschein machte; !Xabbu , dessen braune Augen in seinem Affengesicht warm leuchteten, während er sie ansah; die verbissene Florimel mit maskenartig erstarrten Zügen im Simgesicht, aber vor Müdigkeit hängenden Schultern; und Martine, mit erhobenem Gesicht auf etwas lauschend, das außer ihr niemand hören konnte – Renie betrachtete alle der Reihe nach und überlegte.
»Gut«, sagte sie schließlich. »Es gibt viel zu besprechen, und es sind viele schreckliche Dinge geschehen. Wir haben mindestens einen aus unserer Gruppe verloren, und Sellars hat uns nicht erreicht – und wird uns möglicherweise nie erreichen. Aber wir sind hier, wir sind am Leben, und wir wissen mehr als vorher. Habe ich recht?« Das allgemeine Nicken und Murmeln war keine begeisterte Akklamation, aber noch vor einer Stunde hätte sie wahrscheinlich gar keine Reaktion bekommen. »Wir haben es geschafft, uns im Netzwerk wiederzufinden, und das ist nicht allein dem Zugangsgerät der Gralsleute zuzuschreiben – !Xabbu und Martine haben beide viel dazu beigetragen. Meint ihr nicht auch?«
»Hast du vor, dich zur Anführerin zu machen, Renie?« fragte Florimel. In der Frage schwang ein Anklang ihrer üblichen Streitbarkeit, aber nur ein Anklang.
»Ich möchte euch sagen, was ich denke. Jeder andere kann sich genauso zu Wort melden. Was soll ich deiner Meinung nach tun? Untätig daneben stehen und zuschauen, wie wir uns zerzanken und zerfleischen?
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