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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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begann Orlando, doch er bekam die Frage nicht zu Ende.
    Die fackeltragenden Soldaten teilten sich und traten links und rechts in zwei lange Reihen zurück, so daß ihre rot angeleuchteten Schatten einen Pfad bildeten, der bis zum Portal mit seinen umgebogenen und abgebrochenen Angeln führte. Zwei Gestalten näherten sich auf diesem Pfad langsam dem Tempel. Orlando blieb fast das Herz stehen: Wie groß auch das Grauen war, das die Soldaten und die stur schweigenden Schildkrötenmänner auslösten, so war es doch nichts im Vergleich zu dem würgenden Ekel und der niederschmetternden Ohnmacht, die er beim Anblick der beiden ungleichen Gestalten empfand. Viele der Verteidiger schienen dasselbe zu spüren, denn sie stöhnten auf und suchten noch weiter zurückzuweichen, aber die hintere Wand ließ keinen Raum zum Rückzug mehr. Eine Frau verlor das Gleichgewicht und ging mit einem schrillen Schrei in dem Gedränge unter, wie von Treibsand verschluckt. Als sie zwischen den Beinen der Menge verschwand, wurde es abermals nahezu völlig still im Tempel.
    »Orlando«, sagte Fredericks mit der hauchigen Stimme eines Menschen, der aus einem bösen Traum aufzuwachen versucht, »Orlando, wir … wir müssen …«
    Die beiden Angreifer traten durch das Tor. Einer war unmenschlich dick, und es war das reinste Wunder, daß er ohne Hilfe stehen, geschweige denn so behende gehen konnte. Eine Kapuze um den Kopf schien zuerst zu einer Art Mönchskutte zu gehören, war aber in Wirklichkeit ein Teil seiner Haut; sein übriger massiger Körper war nur mit einem Lendenschurz bekleidet, so daß man die öligen Schuppen, von denen er überzogen war, gut erkennen konnte, schwarz, blau und grau, fleckig wie von einem Ausschlag. Ein langer wulstiger Schwanz schleifte hinter dem Kobramann her wie totes Fleisch.
    Die Gestalt daneben war nur geringfügig weniger abscheulich, ein großer, aber gebückter Mann mit der vorstehenden Brust eines Vogels und mit halbwegs menschlichen Füßen, nur daß sie anstelle der Zehen lange, krumme Krallen hatten. Doch während alles übrige an dem Geiermann nur schlicht häßlich war, hatte sein Gesicht ein wahrhaft bestialisches Aussehen: Wo jetzt sein Hakenschnabel prangte, mochte einmal ein menschliches Gesicht gewesen sein, doch aus irgendeinem Grund waren Fleisch und Knochen geschmolzen und Nase und Kiefer wie Kitt nach außen gezogen worden. Aber wo Menschen wie Vögel Augen haben, hatte die Kreatur nur verwachsenes Fleisch und leere Höhlen.
    »Halt!« grollte der Sphinx mit einer Stimme, die so tief war, daß die Soldaten allesamt einen Schritt zurück machten. Sogar die Schildkrötenmänner wankten ein wenig wie Schilfhalme in einer steifen Brise.
    Das Geierwesen verzog langsam das Gesicht zu einem Grinsen, so daß an seinem Schnabelgelenk Zähne zum Vorschein kamen. »Ach ja, der Wächter mit dem schönen Namen Gestern«, sagte er mit einer bizarr süßen Stimme. »Wie passend, treuer Saf, da du offensichtlich nicht mitgekriegt hast, wie die Dinge sich hier geändert haben.«
    »Der Tempel des Re ist das Allerheiligste, Tefi«, erwiderte der Wächter. Dem von der Nebentür aus zuschauenden Orlando schien die mächtige Gestalt des Sphinx in dem Moment das einzige zu sein, was die Welt noch in den Angeln hielt. »Das ändert sich nicht. Das wird sich niemals ändern. Du und Mewat, ihr habt durch euren Angriff auf das Haus des Höchsten eure Befugnisse überschritten. Macht kehrt und flieht augenblicklich, und vielleicht wird euer Herr Osiris bei seinem Großvater für euch sprechen. Wenn ihr bleibt, bedeutet das eure Vernichtung.«
    Der Kobramann Mewat lachte rauh und schnaufend, und in der Dunkelheit von Tefis leeren Augenhöhlen glitzerte es. »Das mag schon sein, Saf«, sagte der Geiermann. »Du und dein Bruder, ihr seid alt und mächtig, und wir sind nur emporgekommene Junggötter, einerlei wie hoch wir in der Gunst unseres Herrn stehen. Trotzdem sind wir nicht so dumm, euch selber zum Kampf herauszufordern.« Er hob die Hände, deren Finger so lang und dünn waren, daß sie wie Spinnenbeine aussahen, und klatschte. Wie zur Antwort schlugen daraufhin die Schildkrötenmänner mit den Fäusten einen langsamen Trommeltakt auf den Bäuchen, daß ihre Panzer nur so dröhnten.
    Saf duckte sich ein wenig, als setzte er zum Sprung an. Die Muskeln spielten unter seiner steinernen Haut wie fließendes Wasser. Die entsetzte Menge stöhnte auf und brandete abermals gegen die hintere Wand wie eine Welle an eine

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