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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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seinerseits kannte. Wenn er einmal die grausige Möglichkeit außer acht ließ, daß sie sich beide aufgrund irgendwelcher äußerer Manipulationen an eine rein imaginäre Beziehung erinnerten – womit höchst unangenehmen Spekulationen über seine eigene Realität Tür und Tor geöffnet würde –, dann blieb letztlich nur eine Möglichkeit übrig: Sie kannten sich wirklich, aber diese Tatsache war aus seinem Gedächtnis gelöscht worden und aus ihrem auch. Und eigentlich kam für eine solche Gehirnwäsche nur die Gralsbruderschaft in Frage. Nandis Ausführungen über ihren Charakter und ihre Pläne waren von Azador in seiner Lotostrance bestätigt worden, auch wenn er sich jetzt kategorisch weigerte, weiter darüber zu reden.
    Dies aber stellte Paul vor eine ganz andere und unbeantwortbare Frage. Warum? Warum scherten sich derart mächtige Leute um Robert Paul Jonas? Und selbst wenn, warum hielten sie ihn in ihrem teuren System am Leben, statt einfach seinen Stecker zu ziehen? Hieß das, daß sich sein Körper nicht in ihrer Gewalt befand? Aber warum hatten sie ihn dann in den Situationen, in denen sie ihn beinahe geschnappt hatten, nicht schlicht und ergreifend vernichtet? In diesem virtuellen Universum, wo die ihm drohenden Gefahren real waren, wie ihm erklärt worden war, hätten die scheußlichen Zwillinge doch bestimmt einfach eine Bombe auf ihn werfen können, sobald sie ihn ausfindig gemacht hatten.
    Es gab keine einleuchtenden Antworten.
    Paul bemühte sich, seine letzten zusammenhängenden Erinnerungen hervorzuholen, denn wenn er herausfand, wo seine Gedächtnislücke anfing, hoffte er, konnte ihm das vielleicht einen Hinweis darauf geben, was danach gekommen war. Vor seiner Flucht durch die Welten des Netzwerks – vor den mittlerweile verblaßten Schrecken der Erste-Weltkriegs-Simulation, die er für seinen Ausgangspunkt hielt – kam … was? Die Erinnerungen vor diesem Punkt stammten aus der Routine seines täglichen Lebens, dem langweiligen Einerlei, das er so lange gelebt hatte – allmorgendlich der Gang zur Upper Street, das leise Klicken des elektrischen Busses voller Leute auf dem Weg zur Arbeit, die sich geflissentlich ignorierten, dann der Abstieg in die trotz des hochgemuten Namens sehr wenig an Engel erinnernde U-Bahn-Station Angel und die Fahrt auf der schnaufenden Northern Line nach Bankside. Wie viele Tage hatte er genau auf diese Art angefangen? Tausende wahrscheinlich. Aber woher sollte er wissen, welcher der letzte gewesen war, die letzte klare Strecke, bevor die Felder der Erinnerung im silbernen Nebel versanken? Seine Tage waren so banal gewesen, so immer gleich, daß sein Freund Niles öfter bemerkt hatte, er habe es so eilig, alt zu werden, wie andere Leute es eilig hatten, eine Geliebte oder einen lange nicht gesehenen Freund zu treffen.
    Bei dem Gedanken an Niles durchzuckte ihn noch etwas anderes, vage und ungreifbar wie ein fernes Geräusch in der Nacht. Niles’ Sticheleien waren irgendwann selbst durch sein dickes Fell gedrungen. Beschämt von seinem kosmopolitischen Freund hatte Paul angefangen, seiner gar nicht so fernen Vergangenheit nachzutrauern, seinen Jugendjahren, als er sich noch mehr vom Leben erhofft hatte als den jährlichen Winterurlaub in Griechenland oder Italien. In seiner normalen konsequenzlosen, typisch Paulschen Art hatte er sich sogar irgendwelchen Phantasien hingegeben, wobei ihm insgeheim klar gewesen war, daß aus diesem Drang, auszubrechen, nicht mehr herauskommen würde als eine kurze, unglückliche Liebesaffäre oder vielleicht ein Urlaub in etwas exotischeren Gefilden, Osteuropa oder Borneo.
    Und dann hatte Niles eines Tages gesagt … er hatte gesagt …
    Nichts. Er kam nicht darauf, es lag dicht verhüllt unter der silbernen Wolke. Die wunderbare Lebensweisheit, die der Mund seines Freundes ausgespuckt hatte, war weg, und so sehr er sich auch anstrengte, er konnte sie nicht zurückholen.
     
    Da er den Nebel in seinem Kopf nicht durchdringen konnte, kam Paul auf den Mechanismus des falschen Universums um ihn herum zurück.
    Wenn die Frau, Vaala oder wie sie sonst heißen mochte – er kam sich allmählich wie ein Idiot vor, sie in seinen Gedanken immer »die Vogelfrau« oder »den Engel« zu nennen –, wenn sie sich ebenfalls in dem Netzwerk aufhielt, warum erschien sie dann auf so viele Weisen und in so vielen Gestalten, während er stur Paul Jonas blieb, wenn auch mit gelegentlichem Garderobenwechsel? Wieso konnte es mehr als eine Version von

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