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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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begab sich Paul zum Bug, kniete sich hin und beobachtete, wie einer der sagenumwobensten Orte der Welt vor ihm Gestalt annahm.
    Ilion, erinnerte er sich, als jetzt der dröge Unterrichtsstoff von einst in der Ferne zu funkelndem Leben erwachte. Eine Fälschung, ja, aber bei aller Falschheit doch unerhört großartig. Die schöne Helena, um deretwillen ganze Völkerschaften in den Krieg zogen. Achilles und Hektor und das hölzerne Pferd. Troja.
    Die Stadt selbst stand dicht vor den Hügeln auf einer Anhöhe und hatte breite, mächtige Mauern wie aus dem nackten Fels gehauen, glatt wie die Facetten riesiger Edelsteine. Die alles überragende Burg in der Stadtmitte hatte rot und blau bemalte Säulen und goldverzierte Dächer, doch es gab noch viele andere imposante Bauwerke. Troja lebte, in seine Wehr war noch keine Bresche geschlagen. Selbst aus dieser Entfernung sah Paul Wachposten auf den Mauern und die dünnen Rauchfähnchen häuslicher Herdfeuer.
    Feuer brannten auch am Strand, wo sich ein Fluß von der Ebene her ins weite Meer ergoß und wo die tausend schwarzen Schiffe des Epos Bug an Bug auf dem Sand lagen. Die Griechen hatten ihren Landeplatz mit einer mächtigen Einfriedung aus Steinen und Stämmen umgeben, hinter der zahllose Zelte standen und Menschenmassen wimmelten. Das griechische Lager war nicht minder eine Stadt wie Troja, und wenn es keine bunt bemalten Säulen und keine glitzernden Golddächer hatte, dann unterstrich das nur nachhaltig seinen kriegerischen Zweck. Es war eine Stadt, die nur dazu da war, der hochragenden Festung den Untergang zu bereiten.
    »Warum bist du hier?« fragte Azador unvermittelt.
    Es dauerte etwas, bis Paul sich vom Anblick der umhereilenden winzigen Gestalten im griechischen Lager, dem fernen Funkeln der Rüstungen losgerissen hatte. »Was?«
    »Warum bist du hier? Du hast gesagt, du mußt nach Troja. Wir sind da.« Azador deutete mit finsterer Miene auf die gepichten Schiffe und die in der hellen Sonne weiß wie Zähne glänzenden Mauern. »Hier ist ein Krieg im Gange. Was hast du vor?«
    Paul fiel nicht gleich eine Antwort ein. Wie sollte er, zumal diesem barschen Zigeuner, von dem Traumengel und dem schwarzen Berg erzählen – eine Geschichte, die nicht einmal ihm einen Sinn ergab?
    »Ich habe hier ein paar Dinge zu klären«, sagte er schließlich und hoffte dabei inbrünstig, daß es ihm gelingen möge.
    Azador schüttelte unwillig den Kopf. »Ich will damit nichts zu tun haben. Diese Griechen und Trojaner, die spinnen. Sie wollen nichts weiter, als dir eine Lanze in den Leib rammen und dann ein Lied drüber singen.«
    »Du kannst mich gern hier absetzen. Ich erwarte bestimmt nicht von dir, daß du dich meinetwegen in Gefahr begibst.«
    Azador runzelte die Stirn, aber sagte nichts mehr. Er war vielleicht kein Vertreter des archaischen Griechentums, wie Paul zuerst angenommen hatte, aber er gehörte eindeutig einem anderen Menschenschlag an als die ständig plappernden Bildungsbürger, unter denen Paul den größten Teil seines Lebens verbracht hatte: Der Mann ging so sparsam mit Worten um wie ein Wanderer durch die Wüste mit seinen letzten Wasserreserven.
    Mit heftigem Staken gelang es ihnen, das Floß längsseits des Strandes zur Mündung des Flusses zu lenken. Als sie sich dort stromaufwärts weit genug hochgearbeitet hatten, um vor dem launischen Meer sicher zu sein, wateten sie ans Ufer und zogen ihren salzverkrusteten Untersatz aus Stämmen und Tauen an Land. Das griechische Lager war einen halben Kilometer entfernt. Paul knüpfte das Tuch mit der Feder vom Handgelenk und band es sich um die Taille, dann schritt er auf den Wald geneigt stehender Masten zu.
    Azador schloß sich ihm an. »Nur für ein Weilchen«, sagte er mürrisch, ohne Paul in die Augen zu sehen. »Ich brauche was zu essen und zu trinken, bevor ich wieder aufbreche.«
    Ein kurzes Grübeln darüber, ob Azador wirklich essen mußte oder ob das nur eine Angewohnheit war, die er im Netzwerk beibehalten hatte und nicht ablegen wollte, fand ein rasches Ende, als sie zwei männliche Gestalten vom griechischen Lager auf sich zukommen sahen. Einer war schlank und wirkte schmächtig, der andere sah wie ein wuchtiger Kraftprotz aus, und einen Moment lang durchschoß es Paul siedend heiß vor Angst bei dem Gedanken, die Zwillinge könnten ihn schon wieder aufgespürt haben. Er zögerte, doch die über den sandigen Grund auf ihn zustapfenden Gestalten lösten in ihm nicht die mittlerweile gewohnte Panik aus.

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