Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
ihr geben, wie neulich am windigen Strand von Ithaka, als Penelope und die geflügelte Gestalt sich beim Feuer gegenübergestanden hatten?
Vielleicht ist sie gar keine reale Frau. Der Gedanke flößte ihm ein jähes Grauen ein. Vielleicht ist sie tatsächlich bloß Code wie die andern Figuren in diesem verdammten Laden, eine etwas kompliziertere Sorte, aber im Grunde nicht menschlicher als ein elektrischer Bleistiftspitzer. Aber das würde bedeuten, daß außer einigen wenigen Herumirrenden – »Waisen«, war das ihr Wort gewesen? – wie Azador und diese Eleanora in Venedig er in diesem Zirkusuniversum allein war.
Das kann ich nicht glauben, dachte er. Die Majestät des blassen grünlichblauen Himmels verlor kurzfristig ihre bezaubernde Wirkung auf ihn. Ich kann es mir nicht leisten, das zu glauben. Sie kennt mich, und ich kenne sie. Sie haben mir einfach die Erinnerungen geraubt, nur daran liegt es.
Hatte die Vielfalt der Gestalten, in denen sie erschien, etwas mit den Pankies gemeinsam, dem bizarren Ehepaar, das den Zwillingen so ähnlich sah, aber nicht mit ihnen identisch war? Die Überlegung lag nahe, aber er kannte nicht genug Tatsachen.
Wie die Wahrheit auch aussehen mochte, daß die von Nandi beschriebenen verbrecherischen Plutokraten ein einzigartiges technisches Wunderwerk geschaffen hatten, war nicht zu bezweifeln – allein diese spektakuläre Fahrt übers Meer, realer als real, wäre als sensationelle Meldung durch sämtliche Nachrichtennetze gelaufen. Hatte Azador recht, wurde dieses System tatsächlich mit den Seelen geraubter Kinder gebaut? Doch selbst wenn, wie funktionierte es? Und was würde geschehen, wenn sie Troja erreichten?
Dieser letzte Gedanke plagte ihn schon seit Tagen. Er war in einer Simulation der Odyssee – er war Odysseus persönlich! –, aber er hatte am Ende angefangen und bewegte sich rückwärts auf den Punkt zu, an dem die Geschichte seiner Figur eigentlich hätte anfangen sollen, zog in den Trojanischen Krieg. Hieß das, er würde bei seiner Ankunft den Krieg beendet finden, wie es die epische Tradition verlangte, nach der dies die Voraussetzung für die leidvolle Heimreise des Odysseus gewesen war? Wie aber, wenn jemand anders gerade jetzt die Simulation des Trojanischen Krieges benutzen wollte, einer von den reichen Stinkern, die dafür bezahlt hatten? Es war eine bizarre Vorstellung, daß allein deshalb, weil Paul in der Rolle des Odysseus mehrere hundert Kilometer entfernt herumgondelte, selbst die Leute, die das Netzwerk gebaut hatten, anstelle von Trojas einst so stolzen Mauern nur noch eine ausgebrannte, schwarze Ruine erleben konnten.
Der kleine Gally hatte ihm erzählt, daß auf dem Achtfeldplan, der Alice-hinter-den-Spiegeln-Simulation, alle Schachfigurpersonen gegeneinander kämpften, bis das Spiel aus war, und daß dann alles zum Ausgang zurückkehrte und sie wieder von vorn anfingen, buchstäblich mit dem ersten Zug. Hieß das, daß die Simulationen zyklisch waren? Abermals stellte sich dabei die Frage, wie wohl den Besitzern zumute war, wenn sie zum Beispiel Gäste nach Pompeji brachten, damit diese den Ausbruch des Vulkans beobachten konnten, dann aber feststellen mußten, daß die Asche soeben niedergegangen war und es Tage oder Wochen dauern würde, bis das Schauspiel das nächste Mal stattfand.
Paul kam einfach nicht hinter die Logik. Möglicherweise gab es hinter dem ganzen Geschehen einfache Regeln, die es für die Erbauer nur wenig komplizierter als ein Brettspiel machten, aber er war keiner dieser Erbauer, besaß weder ihre Informationen noch ihre Macht. Und falls er anfing, in dem Ganzen nicht mehr als ein Spiel zu sehen, und diese Welt nicht mehr richtig ernst nahm, würde sie ihn wahrscheinlich umbringen.
Als am dritten Tag der Morgen graute und die Seenebel sich langsam lichteten, erblickten sie die Küste.
Paul dachte zuerst, der graue Strich am Horizont wäre einfach der nächste Nebelstreif, doch dann zerriß die Wolkendecke, die Sonne kam durch, und das Meer nahm einen warmen türkisblauen Ton an. Als das Floß näher kam und die Sonne höher stieg, wurde aus dem Grau das helle Gold der Hügel, die die Ebene umlagerten wie schlafende Löwen. Obwohl er wußte, daß es nur Schein war, gab Paul unwillkürlich einen Ton der Bewunderung von sich. Selbst Azador neben dem Ruder knurrte beeindruckt und setzte sich gerade hin.
Während die Wellen sie dem breiten, flachen Strand zu trugen, der sich zu beiden Seiten kilometerweit erstreckte,
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