Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Ohne auf Azadors gereizte Blicke wegen seines Anhaltens und Wiederlosgehens zu achten, näherte er sich ihnen mit innerem Widerstreben. Der Kleinere hob die Hand zum Gruß.
Wenn ich in dieser Simulation wirklich Odysseus bin, dachte er, dann muß das System mich irgendwie einpassen. Ich habe keine Ahnung, was ich hier veranstalten soll, aber Odysseus war einer von den Hauptpersonen vor Troja, soviel weiß ich noch. Ich muß hinschauen und zuhören und aufpassen, daß ich mich nicht verhaspele.
Der Wind wechselte und trug ihm jetzt die Gerüche des griechischen Lagers zu, die Ausdünstungen von dicht an dicht lebenden Tieren und Menschen, den beißenden Rauch vieler Feuer.
Aber wenn diese beiden da nicht seine ungeheuerlichen Verfolger waren, dachte er plötzlich, vielleicht waren sie dann der Grund dafür, daß Penelope und ihre sonstigen Inkarnationen ihn hierhergeschickt hatten. Vielleicht suchte ihn irgend jemand – ein realer Mensch. Vielleicht wollte jemand ihm tatsächlich dazu verhelfen, aus diesem endlos erscheinenden Albtraum freizukommen.
Bei dem Gedanken an Rettung wurden ihm die Knie beinahe so weich wie beim Gedanken an die Zwillinge; Paul schob ihn beiseite und versuchte sich zu konzentrieren. Die beiden herankommenden Männer waren jetzt besser zu erkennen. Einer war ein winziger alter Mann mit einem weißen Rauschebart und dünnen Armen, die nußbraun waren, wo sein wallendes Gewand sie freiließ. Der große Mann war zum Kampf gerüstet mit einer Brustplatte, die aus Leder mit Metallbeschlag zu sein schien, und einer Art Metallhemd. Er hielt unter einem Arm einen Bronzehelm und in der anderen Hand eine furchterregend lange Lanze.
Mit diesem Ding könnte man jemand drei Häuser weiter abstechen, dachte Paul beklommen. Azadors Weigerung, sich in den Krieg dieser Leute hineinziehen zu lassen, kam ihm auf einmal sehr vernünftig vor.
Jetzt, wo die Fremden ziemlich nahe gekommen waren, erkannte Paul, daß der alte Mann keineswegs klein war; vielmehr war der Krieger riesig, gut über zwei Meter groß, und hatte dazu einen stachligen Bart und Brauen wie überhängende Felsen. Ein Blick auf das harte Gesicht und den Stiernacken des mächtigen Mannes reichte aus, und Paul wußte, daß er sich hüten würde, sein Mißfallen zu erregen.
»Mögen die Götter dir hold sein, Odysseus!« rief der alte Mann. »Und mögen sie mit freundlichen Augen auf uns Griechen und unser Unternehmen blicken. Wir suchen dich schon eine ganze Weile.«
Als Azador begriff, daß die Anrede Paul galt, warf er ihm einen halb amüsierten, halb verächtlichen Blick zu. Paul wollte ihm sagen, daß er sich die Rolle des Odysseus nicht ausgesucht hatte, aber der Alte und der Hüne standen schon vor ihnen.
»Und der wackere Eurylochos, wenn ich mich recht entsinne«, bemerkte der alte Mann zu Azador und nickte ihm flüchtig zu. »Du wirst einem alten Mann verzeihen, falls er sich in deinem Namen irren sollte – es ist viele Jahre her, daß Phoinix in voller Mannesblüte stand wie ihr beiden, und mein Gedächtnis läßt nach. Jetzt aber muß ich mit deinem Herrn sprechen.« Er wandte sich Paul zu, als ob Azador verschwunden wäre. »Wir bitten dich, uns zu begleiten, erfindungsreicher Odysseus. Der kühne Ajax und ich sollten Achilles dazu bewegen, wieder am Kampf teilzunehmen, aber er ist hochfahrend wie immer und will nicht vor die Tür treten. Er ist der Meinung, daß der gebietende Agamemnon ihm unauslöschliche Schmach zugefügt hat. Wir bedürfen deiner Klugheit und deiner Zungenfertigkeit.«
Na, das war ja eine nette Kurzfassung, dachte Paul bei sich. Liefert mir das System, was ich brauche, damit ich von hier an meinen Part übernehmen kann? Dennoch wünschte ich, ich würde mich besser an alles erinnern. Für einen richtigen Altphilologen wäre das hier der siebte Himmel – abgesehen von der sehr realen Möglichkeit, ins Gras zu beißen.
»Klar«, sagte er zu dem alten Phoinix. »Ich komm mit euch.«
Azador kam hinterher, aber keiner der beiden anderen nahm von ihm Notiz.
Das Tor des griechischen Lagers war aus Balken mit schweren Bronzebeschlägen gebaut und von mehreren bewaffneten Männern bewacht. Das Lager selbst sah aus, als wäre es am Anfang, vielleicht als sich die Belagerer noch Hoffnungen auf ein baldiges Ende gemacht hatten, nur ein notdürftiges Biwak gewesen, aber nach einem knappen Jahrzehnt auf der trojanischen Ebene war daraus eine hochorganisierte Anlage geworden, wenngleich noch immer nicht im
Weitere Kostenlose Bücher