Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
schien er aus Rubin oder mit Blut lackiert zu sein.
Es gab im Herrn der Ringe eine Figur mit ihrem Namen. Er war der Gefährte des Haupthelden, und als der Held krank war, so gut wie tot, war es dieser Sam, der die Bürde auf sich nahm und sie weitertrug. Für Sam war der Moment gekommen, hatte Orlando immer wieder erklärt. Der Moment, ein Held zu sein. Wenn es soweit ist, hatte er oft gesagt, weißt du es. Du willst es vielleicht nicht wissen, aber du weißt es.
Sie hatte gemeint, er rede von Phantasiehelden wie seinem Thargor, der Geißel von Mittland, aber jetzt glaubte sie, daß er im Grunde von sich selbst gesprochen hatte, von der Arbeit, die es kostete, aus dem Bett herauszukommen und den Tag durchzustehen, Tag für Tag. Zudem beschlich sie langsam das Gefühl, daß er damals zu einer Person gesprochen hatte, die sie noch gar nicht gewesen war – zu der Sam Fredericks nämlich, die in dieser Nacht auf einem kalten Erdfußboden in einem Heerlager auf der trojanischen Ebene kauerte und mit ansehen mußte, wie Orlando sich unruhig im Schlaf herumwälzte. Und jetzt verstand sie.
Für Sam war der Moment gekommen, ein Held zu sein.
Kapitel
Fahrten ins Ungewisse
NETFEED/NACHRICHTEN:
»Coralsnake« soll unter Ausdrucksfreiheit fallen
(Bild: Möven bei der Verhaftung vor seinem Haus in Stockholm)
Off-Stimme: Der freiberufliche Gearschreiber Diksy Möven, Urheber des Virus »Coralsnake«, der letztes Jahr im ganzen Netz Knoten zerstörte und den Datenverkehr lahmlegte, will bei seiner Verhandlung die Auffassung vertreten, seine Verhaftung stelle eine widerrechtliche Beschneidung der Ausdrucksfreiheit dar.
(Bild: Anwalt Olaf Rosenwald)
Rosenwald: »Mein Mandant steht auf dem Standpunkt, daß das Netz allen gehört. Es ist ein freies Medium, genau wie die Luft, die wir atmen. Die maßgebenden UN-Richtlinien stellen klar, daß alle Bürger der Welt das Recht auf freien Ausdruck haben – von einem Unterschied zwischen Worten und Codezeilen ist nirgends die Rede! Wenn Leute seinen Code akzeptieren und dadurch ihre Anlagen Schaden nehmen, dann kann man meinem Mandanten genausowenig die Schuld daran geben, wie man einem Autor, der ein Buch über Verbrechen schreibt, die Schuld geben kann, wenn Leute das Buch lesen und dann ein Verbrechen begehen. Mein Mandant hat nun einmal eine Vorliebe dafür, sich mittels komplizierter Symbolketten auszudrücken, und wenn man diese Symbole unsachgemäß benutzt, kann es natürlich sein, daß sie eine zerstörende Wirkung haben …«
> Calliope Skouros war bereits seit einer halben Stunde in der Yirbana Gallery, als ein mißmutiger und abgekämpfter Stan eintraf. »Was Besseres, um sich zum Essen zu treffen, ist dir nicht eingefallen?« Er versuchte, seine heruntergerutschte Brille mit Naserümpfen wieder nach oben zu schieben, da seine Hände tief in den Manteltaschen vergraben waren. »Weißt du, wie schwer es ist, hier ’nen Parkplatz zu finden?«
»Du hättest mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren sollen«, entgegnete sie. »Wir brauchen den Wagen heute nachmittag nicht.«
»Wir hätten erst gar nicht aus dem Büro zu gehen brauchen«, meinte er. »Wir hätten uns Yum Cha bringen lassen können.«
»Wenn ich die Woche noch einen einzigen Knödel esse, platze ich. Außerdem gibt es einen Grund, weshalb ich herkommen wollte.« Sie deutete auf die Ausstellung, ein Ensemble hingebungsvoll bearbeiteter Holzpfosten, das aussah, als ob ein expressionistischer Künstler eine Stadtsilhouette nachgeschaffen hätte. »Weißt du, was das ist?«
»Wirst du mir bestimmt gleich erzählen.« Stan ließ sich auf die Bank fallen. Für einen Mann, der viel Zeit im Fitneßstudio verbrachte, stellte er sich ziemlich an, wenn er einmal laufen mußte.
»Tiwi-Grabpfähle.«
Er betrachtete die Sammlung holzgeschnitzter Unikate skeptisch. »Aha. Suchst du nach irgend’nem rituellen Motiv? Ich dachte, dein Opfer Polly Merapanui wäre ’ne Tiwi gewesen, nicht der mutmaßliche Mörder.«
»Na ja, soweit wir wissen, fühlte er sich in keiner Weise als Aborigine. Doktor Danney meinte, er hätte alles gehaßt, was damit zusammenhing. Seine Großmutter stand noch ganz in der Stammestradition, aber Johnny Dread selbst hatte nie eine Chance, direkt damit in Berührung zu kommen, da seine Mutter anscheinend von zuhause weglief, als sie noch ganz jung war, und als dann der Junge kam, war Mami zu sehr damit beschäftigt, anschaffen zu gehen und sich schwarzes Eis in die Adern zu jagen, um
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