Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
zurückgeschreckt, sich den Ruf von Feiglingen einzuhandeln – für diese Leute anscheinend ein Schicksal, das schlimmer war als der Tod –, und hatten Orlando geraten, den Befehl zur Abfahrt zu geben. Wenn sie schon nicht kämpfen durften, hatten die Männer erklärt, warum sollten sie dann dasitzen und sich abschlachten lassen, wenn die Trojaner morgen über die Mauer kamen?
Orlando, der seit ihrer Ankunft in Troja einen Schwächeanfall nach dem anderen gehabt hatte, war an diesem Punkt zu wenig mehr in der Lage gewesen, als ihnen mit trüben Augen und mühsam hochgehaltenem Kopf zuzuhören. So sehr es Sam quälte, ihn in diesem Zustand zu sehen, graute ihr doch noch mehr davor, was passieren konnte, wenn die Männer recht hatten. Selbst in ihrem derzeitigen Sim konnte sie seinen Achilleskörper nicht mehr als wenige hundert Meter weit tragen – wenn die Trojaner durchbrachen, mußte sie entweder Orlando im Stich lassen oder beschließen, mit ihm zusammen zu sterben. Jonas hatte bestätigt, was ihr und Orlando bereits geschwant hatte: Wenn man hier getötet wurde, dann in echt.
Paul Jonas selbst war nach den Kämpfen des Tages nicht zu ihnen zurückgekehrt, was möglicherweise nichts zu besagen hatte, aber was genausogut bedeuten konnte, daß er eine der Leichen war, die in dem Massengrab neben der Mauer lagen, oder gar einer der Unglücklichen, die unbestattet draußen auf der Ebene erstarrten. Wenn sie sich getraut hätte, Orlando allein zu lassen, wäre sie Jonas auf der Stelle suchen gegangen. Sie brauchte dringend einen Rat.
Sam Fredericks war keine, die sich mit Lesen abgab, das hatte Orlando ihr immer wieder aufs Brot geschmiert, doch sie war alles andere als dumm. Sie konnte einwandfrei lesen, doch das Leben kam ihr einfach zu kurz vor, um viel Zeit mit langwierigem Textentziffern zu verbringen, wenn man alle Geschichten, die man haben wollte, im Netz finden oder selber machen konnte. Aber Orlandos Sticheleien hatten ihre Wirkung nicht ganz verfehlt, und seine ständigen Schwärmereien über den Herrn der Ringe hatten ihr das Gefühl gegeben, daß ihr etwas entging – wenn sonst nichts, so doch ein wesentlicher Teil der Persönlichkeit ihres besten Freundes. Deshalb hatte sie sich, ohne es ihm zu sagen, den Text heruntergeladen und ihn gelesen. Es war ihr nicht leichtgefallen und hatte sie fast ein Jahr Arbeit gekostet, weil sie immer mal danach griff und ein Stück las, sich dann aber langweilte und lieber etwas Leichteres machte. Auch als sie die monumentale Aufgabe bewältigt hatte – wer konnte auch nur im Traum daran denken, so viele Wörter über irgendwas zu schreiben? –, hatte sie Orlando nichts davon erzählt, zum Teil weil ihr das Buch im Grunde nicht besonders gefallen hatte und die langen, blumigen Beschreibungen von Bäumen, Fußmärschen und Mahlzeiten ziemlich an ihr vorbeigegangen waren. Aber sie hatte danach, schien es ihr, ein wenig besser verstanden, was Orlando daran fand – handelte es doch zum großen Teil vom Verlieren geliebter Dinge. Und als sie jetzt darüber nachdachte, während sie den schlafenden Achilles betrachtete, der zugleich ihr bester Freund war, fand sie es noch verständlicher.
Aber eines war ihr ganz besonders im Gedächtnis geblieben, und sie wußte, daß dies für Orlando mit das wichtigste im ganzen Buch war, nämlich die Frage, was eigentlich einen Helden ausmachte. Er redete immer davon, daß die echten Helden ganz anders waren als Bulk U Six in Boyz Go 2 Hell oder einer von der Sorte, nicht einfach Typen, die alle anderen abmurksen konnten und dabei noch coole Sprüche abließen. Echte Helden waren wie die Figuren in der Geschichte von diesem Tolkien, sie taten, was sie tun mußten, auch wenn sie es furchtbar fanden, auch wenn sie dabei ihr eigenes Leben aufgaben.
Sam hatte Angst. Sie wußte nicht, was als nächstes passieren würde, aber sie hatte wenig Zweifel daran, daß die Trojaner am kommenden Tag die Mauer einnehmen würden, weil Achilles, der größte Krieger der Griechen, derzeit der Sim eines sterbenden Jungen war. Den ganzen Tag über waren Boten von Agamemnon gekommen und hatten alle Reichtümer der Erde versprochen, wenn Achilles doch bloß herauskommen und kämpfen wollte, wobei sie ihm immer wieder vorhielten, daß schon der bloße Anblick von ihm in seinem Panzer die Herzen der Griechen mit Mut und die der Trojaner mit Schrecken erfüllen würde.
Jetzt starrte sie den blanken Panzer auf seinem Ständer an. Im roten Schein der Glut
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