Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
die Liebe, deretwegen Leute wie ihre Eltern irgendwann heirateten und Leute in Netzsendungen Banken in die Luft jagten, von Steilküsten hinunterrasten oder sich erschossen, aber sie kam ihr irgendwie trans anders vor. Bevor sie von Orlandos Zustand gewußt hatte, hatte sie sich oft gefragt, wie er wohl aussehen mochte, und hatte sich in ihrer Phantasie sogar ein Bild von ihm zurechtgemacht – dünn, mit lockerer Tolle, einer altmodischen Brille und einem sympathisch schiefen Lächeln –, aber die Vorstellung, ihn persönlich kennenzulernen, war immer ein wenig peinlich gewesen und mit der Zeit regelrecht beklemmend geworden.
Beklemmend natürlich deswegen, weil Orlando Gardiner dachte, Sam Fredericks wäre ebenfalls ein Junge.
Daher war sie, als die Monate dahingingen und aus einem Jahr Freundschaft zwei und mehr wurden, in ihren Gefühlen ihm gegenüber immer zwiespältiger geworden. Die Verbindung zwischen ihnen war tief. Ihre Fähigkeit, sich übereinander lustig zu machen und sich sogar zu beschimpfen, ohne sich je zu fragen, ob der andere vielleicht beleidigt war, stellte eine der größten Freiheiten dar, die sie je erlebt hatte. Sein bissig spottender Humor war gewissermaßen das Ideal ihres eigenen, und Sam war uneingebildet genug, um ihn nicht zu übelzunehmen, und helle genug, um ihn schätzen zu können. Sie fand, daß Orlando auf seine Art genauso gewitzt war wie die Leute im Netz, die Millionen Kredite dafür bekamen, von Berufs wegen schlau zu sein. Und sie war zudem sein bester Freund, der einzige Mensch, auf den er, nach eigenem halben Eingeständnis, nicht verzichten konnte. Wie sollte sie ihn da nicht lieben?
Gleichzeitig war sie, ohne es zu merken, immer abhängiger von einer Freundschaft geworden, die nie das Netz verlassen konnte, weil eine persönliche Begegnung offenbar gemacht hätte, daß ihre vertiefte Beziehung auf falschen Voraussetzungen beruhte, die sie ihm, wenn auch unabsichtlich, vorgespiegelt hatte. Was ihr von Anfang an angenehm gewesen war, nämlich wie ein anderer Junge behandelt zu werden und in aller Freiheit ungehobelt und hemmungslos und rüpelhaft sein zu dürfen, ohne daß ihre Eltern oder sonst jemand sich darüber entsetzten, war ihr immer kostbarer geworden.
Bis zu dem gräßlichen Moment der Entdeckung und dem Nachspiel, als Orlando seinerseits die Karten auf den Tisch legte, war ihr nicht bewußt gewesen, daß die Sache zweischneidig sein konnte. Einsehen zu müssen, daß Orlando, als er sich ihr offenbarte und sie daraufhin von Gewissensbissen wegen ihres doppelten Spiels gepeinigt wurde, die ganze Zeit über ein Geheimnis gehütet hatte, das noch schwerwiegender war als ihres, hatte überraschend weh getan.
Aber die schreckenerregenden Wunder des Otherlandnetzwerks hatten sie beide abgelenkt, und in den letzten Tagen war Orlando noch mehr von seiner Krankheit absorbiert gewesen, jenem unabänderlichen gesundheitlichen Verfall, über den er deutlich gerne reden wollte, aber den zu besprechen Sam nicht ertragen konnte. Sie war zu klug, um sich einzubilden, die Wirklichkeit würde sich ändern, nur weil sie ihr nicht paßte, aber sie war auch abergläubisch genug, um tief im Innern zu glauben, daß sie etwas länger fernhalten konnte, indem sie es ignorierte. Trotz ihrer gelegentlichen Schwierigkeiten und Reibereien hatte Sam Fredericks am Rand von Charleston in West Virginia ein glückliches Leben geführt, und sie wußte sehr wohl, daß sie nicht dafür gerüstet war, so etwas zu verkraften.
Orlando schlief. Sein goldlockiger, muskulöser Achilleskörper lag bäuchlings auf dem Bett, sein dünner Überwurf war verrutscht. Er sah aus, fand sie, wie eine Reklame für ein Männerparfüm. Falls sie überhaupt dadurch zu erregen war, daß sie ein Zimmer mit einem Jungen teilte, dann war das jetzt die Gelegenheit, sie aber konnte an nichts anderes denken, als wie krank er war, wie tapfer er sich hielt.
Die Schlacht vom Vortag war am Nachmittag so nahe herangerückt, daß sie gehört hatte, wie die trojanischen Angreifer den griechischen Verteidigern Schmähungen zuriefen. Achilles’ Myrmidonen, die so danach lechzten zu kämpfen, daß sie wie angeleinte Hunde zitterten, hatten ihr regelmäßig Meldung über den Fortgang der Attacke gemacht, und obwohl die Trojaner zuletzt zurückgedrängt worden waren, schien niemand daran zu zweifeln, daß eine Art himmlische Waage weiterhin zu ihren Gunsten ausschlug. Etliche der Myrmidonen hatten nicht einmal davor
Weitere Kostenlose Bücher