Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
mehrere Touristen an anderen Tischen hatten sich umgedreht und schauten, worum die Auseinandersetzung ging. »Ich rede schlicht von … was weiß ich … Haß. Wenn du eine Aboriginefrau im Ghetto von Cairns wärst, womöglich von deinem eigenen Vater geschlagen und vergewaltigt – es gibt entsprechende Hinweise in den Sozialamtsunterlagen – und mit Sicherheit von Kunden geschlagen und vergewaltigt, könnte es dann nicht sein, daß du es der Welt gern heimzahlen würdest? Nicht alle Armen können obendrein auch noch edel und gut sein.« Sie beugte sich näher heran. »Die wenigen Jugendamtsberichte, die wir von Johnny Darks Kindheit haben, sind grauenerregend – du hast sie selbst gesehen. Gepeitscht und gebrannt, tagelang in Wandschränke gesperrt, einmal als Dreijähriger längere Zeit auf der Straße ausgesetzt, bloß weil er einen der sogenannten Freunde seiner Mutter geärgert hatte. Und wenn einiges davon nun vorsätzlich geschah? Wenn sie ihn damit … formte? Aus ihm eine Waffe gegen die Welt machte, die ihr Gewalt angetan hatte?«
Stan war bereits bei seinem ersten Nachtisch angelangt, und so wie er löffelte und kaute, hatte sie zunächst den Eindruck, er habe nicht zugehört. »Interessant, Skouros«, sagte er nach einer Weile. »Ja, da könnte durchaus was dran sein. Aber erstmal hab ich ein paar Probleme damit. Zum einen hat er seine Mutter gehaßt – das hat dieser Danney klipp und klar gesagt. Wenn sie am Leben geblieben wäre, hätte er sie umgebracht. Wieso sollte er ihretwegen einen Kreuzzug führen?«
»Aber genau das hat er getan, denke ich! Ich denke, seine Mutter wollte ihn dazu abrichten, dieser … Woolagaroo zu sein, dieses mörderische Monster, aber mehr als alles andere hat sie ihn dazu gebracht, sie zu hassen.«
»Und wie paßt unser Opfer in diese Geschichte?«
»Vielleicht hat sie versucht, gut zu ihm zu sein, und ist dabei einem gefährlich kaputten Punkt in seinem Innern zu nahe gekommen. Vielleicht hat sie sogar versucht, für ihn zu sorgen, wie Mädchen das manchmal machen. Vielleicht … vielleicht hat sie versucht, seine Mutter zu sein.«
Stan verlangsamte sein Eßtempo, als er mit seinem zweiten Nachtisch anfing, und sagte fast eine Minute lang nichts, so daß man nicht recht wußte, ob er nachdachte oder bloß wiederkäute. »Na schön, ich verstehe«, sagte er schließlich. »Ich bin nicht völlig überzeugt, aber es ist interessant. Ich hab allerdings meine Zweifel, daß es uns irgendwie weiterhilft, und ich seh ums Verrecken nicht, was es mit Grabpfählen zu tun haben soll.«
Calliope zuckte mit den Achseln, dann langte sie mit ihrer Gabel hinüber und zwickte sich eine Ecke von Stans Kuchen ab. Er zog die Augenbrauen hoch, aber sagte nichts – es war eine alteingespielte Nummer. »Das kann ich dir nicht sagen. Ich hab einfach so ein Gefühl, daß dieser Mythenkram nicht bloß Staffage ist. Er hat das Mädchen nicht so zugerichtet, weil er sein kulturelles Erbe irgendwie runtermachen wollte. Nein, es sieht eher nach … nach einem Versuch aus, sich von dem Zeug zu befreien. Es seiner Mutter ins Gesicht zu schlagen, wie um ihr zu sagen: ›Das halte ich von deinen Plänen.‹ Aber sie war fort, war schon tot. Er mußte jemand anders finden, an dem er seine ganze Wut auslassen konnte.«
Stan schob sich ein wenig vom Tisch zurück, damit er die Beine überschlagen konnte. Der durch die hohen Fenster schräg einfallende Sonnenschein, das Grün der Bäume im botanischen Garten, die schrillen Stimmen der im Serviergang schliddernden Kinder, alles ließ Polly Merapanuis Tod nahezu unwirklich fern erscheinen. Aber genau so soll es sein, nicht wahr? dachte Calliope. Wir machen unsere Arbeit, damit die Leute das Gefühl haben können, daß der ganze Schmuddelkram von ihnen ferngehalten wird und sie nicht damit in Berührung kommen, daß sofort, wenn jemand was Scheußliches macht, solche wie wir aufkreuzen und ihn aus dem Verkehr ziehen.
»Ich hab mir auch ein paar Gedanken gemacht«, verkündete Stan plötzlich. »Aber vorher eine Frage. Sag mir nochmal, warum genau sie diesen Fall aus der Fahndung nach dem ›Sang Killer‹ rausgeschmissen haben – oder nach dem ›Real Killer‹, oder wie sie den Scheiß diese Woche sonst nennen … ›Sang-Real-Good-Killer‹ vielleicht. Warum haben sie die Merapanuisache davon abgekoppelt?«
»Das Sonderdezernat hat überhaupt nur deshalb jemals einen Blick drauf geworfen, weil die Tatwaffe die gleiche war – ihr Mörder benutzt
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