Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
innerhalb des Systems hatte, das Nervenzentrum, vermutete er, worüber das Betriebssystem das gesamte Netzwerk und sein wunderbares Zusammenspiel steuerte. Einen Augenblick lang hatte er Zeit, sich daran zu weiden, dann fiel irgendein Etwas über ihn her wie ein mörderischer Polarwind.
Bild und Ton, überhaupt sämtliche Eingaben verschwanden mit einem Schlag. Seine Willenskraft schien in einer alles überschwemmenden, eiskalten Schwärze zu ersticken. Abgeschnitten von allem schlug Dread ohnmächtig um sich. Ein Körper, der einmal ihm gehört hatte und dessen Reaktionen jetzt von dem telematischen Anschluß unterdrückt wurden, rang an einem weit entfernten Ort darum zu schreien, aber es ging nicht.
Etwas brach in sein Gehirn ein, und aus der Schwärze wurde in einer Mikrosekunde ein weiß gleißendes, alles verzehrendes Licht. Er fühlte, wie sein Ich sich auflöste, wie seine Gedanken verbrannten und einschrumpften wie Ameisen in einer blauweißen Gasflamme.
Es versteckte sich nicht mehr, begriff er gerade noch, dieses Etwas im Herzen des Netzwerks. Er hatte seine Finger hineingesteckt, es verletzt, es verhöhnt, und jetzt hatte es ihn.
Und es haßte ihn.
> Die bandagierte Hand ging hoch und deutete auf den langen, niedrigen Tunnel und die schwarzen Wände voll eingemeißelter Bilder und Zeichen, die im Licht der ersterbenden Sonne glitzerten. »Und dies ist der ›Gottesgang auf dem Weg des Schu‹, so genannt, weil er zur Luft hin offen ist. Die Prozession wird hier beginnen.« Als die mumifizierte Erscheinung sich umdrehte, war die Totenmaske des Gesichts starr und undurchdringlich, aber in der Stimme lag ein Anflug von Gereiztheit. »Ich nehme mir die Zeit, dir eine persönliche Führung zu geben, Wells«, murrte Osiris, andernorts als Felix Jongleur bekannt. »Gerade heute ist meine Zeit außerordentlich kostbar. Ich bin sicher, deine auch. Du könntest wenigstens Interesse heucheln.«
Die zweite mumifizierte Gestalt wandte sich von den Reliefs an den Wänden ab. Auf dem gelben Gesicht des Gottes Ptah erschien ein ganz winziges Lächeln. »Entschuldige, Jongleur. Ich habe gerade … nachgedacht. Aber das alles hier ist sehr eindrucksvoll – ein angemessener Schauplatz für die Zeremonie.«
Felix Jongleur gab ein abschätziges Geräusch von sich. »Du hast noch kaum einen Bruchteil davon gesehen. Ich wollte dir damit einen Gefallen tun. Ich dachte, du würdest die Zeremonie vielleicht gern mit mir durchgehen, um spätere Überraschungen zu vermeiden. Ich will offen sein. Wir sind als Verbündete kaum vorstellbar, deshalb will ich, daß du über alles im Bilde bist, was geschehen wird – wir sollten uns nicht mit Verdächtigungen das Leben schwer machen.« Er gestattete sich seinerseits den Anflug eines harten Lächelns. »Na ja, jedenfalls nicht über das gebotene Maß hinaus, versteht sich.«
»Versteht sich.«
Eine Handbreit über dem blank polierten Silberboden schwebend bewegte Jongleur sich tiefer ins Innere hinein. Wells ging lieber zu Fuß, eine von biederer Sturheit zeugende Marotte, die Jongleur ungemein amüsierte. »Dies ist der ›Gottesgang des Re‹«, sagte er, während sie durch den zweiten Korridor zogen, der breiter war als der erste und Stützpfeiler beschichtet mit glänzender Gold-Silber-Legierung hatte. »Der äußerste Ort, an den das Sonnenlicht noch dringt. Und dieser Gang hier, wo die Statuen der Götter in Nischen an den Wänden stehen, heißt ›Die Stätte, wo sie ruhen‹. Du wirst feststellen, daß deine Figur nicht weniger schmeichelhaft dargestellt ist als die der andern, Wells. Ich bin noch nie kleinlich gewesen.«
»Zugegeben.«
Jongleur führte ihn über den tiefen senkrechten Schacht hinweg, die sogenannte ›Stätte des Abschneidens‹, wo Wells sich notgedrungen kurz in die Luft erheben mußte, um zur anderen Seite zu gelangen, und dann die lange, feierliche ›Rampe‹ hinauf, deren Figuren auf den Wandgemälden nicht nur leuchteten, sondern auch Musik machten und sich grazil bewegten; es war die einzige Abweichung von den klassischen Vorbildern, die Jongleur auf die inständigen Bitten von Ricardo Klement hin, den letzten Teil der Prozession »dramatischer« gestalten zu dürfen, zugelassen hatte. Selbst der Herr über Leben und Tod mußte zugeben, daß die Resultate erstaunlich subtil und geschmackvoll waren – der ansteigende Gang schien sich auf beiden Seiten in einen wunderschönen stilisierten Jenseitsgarten zu öffnen, in dem die Götter im
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