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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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urteilen, ein Mensch, der sich nicht allzusehr von ihm unterschied. Neuronales Netz, Künstliches Leben, was du auch sein magst … ich werde dich mit Wonne auseinandernehmen.
    Bei ihrer Untersuchung des Zugangsgerätes hatte Dulcy etwas entdeckt, das sie für ein Prioritätssignal hielt, genau das Privileg, das Mitglieder der Gralsbruderschaft für sich beanspruchen würden, zumal in früheren Zeiten, als sie sich das System noch mit anderen teilen mußten, die nicht zu ihrem Klüngel gehörten. Dread aktivierte den nächsten Scheinanruf und versah ihn mit diesem Prioritätssignal, was zu funktionieren schien – diese Sonde wurde nicht angegriffen und hatte die äußere Ebene sofort geöffnet. Nun bot das System zusätzliche Abwehrmaßnahmen auf, die Dread und Dulcy zum Teil nur in der allerallgemeinsten Form hatten voraussehen können: Da ihr Zugangsgerät eine Kopie war, war es nicht regelmäßig aktualisiert worden. Die Sonde wurde von einem blitzschnellen Wall von Fragen gestoppt, auf die sie erstmal keine Antworten parat hatte. Dread beschloß, daß es an der Zeit war, aggressiv zu werden.
    Er schickte seinen eigentlichen Anruf durch die in dem Moment aktive Leitung, nistete die neue Sonde auf der sekundären Ebene des Otherlandsystems ein, so daß er hineinschlüpfen konnte wie in einen Anzug, und brachte seine besondere Fähigkeit – seinen Dreh – langsam zur Wirkung. Die hochkomplexen Schachtelungen, die Schicht um Schicht aufeinander folgenden Unterprogramme waren so viel labyrinthischer als selbst das erstklassige Sicherheitssystem der Atascos, daß er zuerst fast verzweifelte, doch er krallte sich in dem Spalt fest, den er in dem System geöffnet hatte, und sah sich die Situation an.
    Dulcy rüstete ihn mit sämtlichen Tools auf, die sie vorbereitet hatten, und improvisierte sogar ein paar, aber obwohl seine Sonde nicht angegriffen wurde wie die erste, schaffte sie es auch nicht, die nächste Abwehrstufe zu durchdringen. Bei einem einfacheren System wäre an diesem Punkt möglicherweise das automatische Scheitern des Angriffs erfolgt, aber das Otherlandsystem schien mit dem Paradox eines Codes, der Priorität hatte und dennoch unvollständig war, leben zu können. Sie hielten ihren Brückenkopf, aber kamen nicht weiter.
    Die Neunte Sinfonie hatte geendet und fing gerade wieder von vorne an, dunkle, verschwebende Streichertöne dicht an der Hörschwelle, als Dread endlich eine Schwachstelle fand. Er hatte seinen Dreh bisher sparsam eingesetzt, da dieser im Gegensatz zu dem übrigen Arsenal, das er und Dulcy aufgeboten hatten, organisch und erschöpfbar war; als er jetzt den Reaktionen des Otherlandsystems noch einmal auf den Zahn fühlte, entdeckte er etwas, das er sich nur als Zaudern erklären konnte, einen Punkt, an dem das System, das ihm so hartnäckig Widerstand leistete, eine fast unmerkliche Verzögerung aufwies.
    Einem gewöhnlichen Häcker, der nur mit Zahlen und Online-Erfahrung operierte, hätte es entgehen können, aber Dreads eigentümliche Begabung hatte ursächlich nichts mit Informationssystemen zu tun, auch wenn sie sich zufällig gegen solche Systeme einsetzen ließ: Welchem rätselhaften genetischen Umstand sie sich auch verdanken mochte, sie war ein Teil von ihm. Dread war ein Jäger, hatte das Talent eines Jägers. Der Sekundenbruchteil, um den das System bei jedem Zyklus zu spät reagierte, war viel zu kurz, um mit noch so feinen natürlichen Sinnen wahrgenommen zu werden – aber mit dem Dreh spürte er ihn, so wie ein Hai in einer Meile Entfernung einen Löffel Blut im Wasser wittern konnte.
    Er vergaß alles – Dulcy, die Unterprogramme, seinen eigenen fleischlichen Körper –, bis es nur noch den Dreh gab, einen Energiepuls am äußersten Wirkungshorizont seines Willens. Er ignorierte die inzwischen ununterbrochenen Migräneschmerzen, verlangsamte seine Atmung und schickte dann seine Geisteskraft durch die Fasern seines Bewußtseins ins Weite aus, bis er selbst zu jenem Punkt im hypothetischen Raum wurde – bis er der Dreh war. Und er wartete.
    Das Otherlandsystem mochte sich den Anschein geben, eine undurchdringliche Mauer zwischen seiner Sonde und dem, was er suchte, aufgerichtet zu haben, aber diese Mauer war von derselben Art wie die Festigkeit der Materie – ein falscher Anschein, eine Kapitulation vor den Grenzen der Wahrnehmung. Genau wie die Festigkeit eine Illusion war, erzeugt durch wirbelnde, gebundene Energie, so war die Schutzmauer, mit der das System ihn

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