Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
der Kelch eure Lippen berührte.« Er blickte auf die Runde weitgehend unbewegter Tiergesichter. »Wenn ihr euch abends schlafen legt, habt ihr dann Angst, daß ihr beim Aufwachen nicht mehr derselbe Mensch sein werdet? Dies hier wird nicht einmal wie Schlafen sein – noch keine Sekunde, und ihr lebt im Netzwerk, ohne jede Einschränkung durch Leiblichkeit, durch Alter, Krankheit oder Tod.«
»Aber wenn wir richtig sterben«, fragte der Gott mit dem Krokodilskopf, »und es bloß eine andere Version von uns ist, die überlebt, was passiert dann mit unserer Seele?«
Wells lachte. »Wenn du wirklich an sowas glaubst, hättest du dein Geld anders anlegen sollen.«
Ein Schweigen legte sich über den Raum. »Genug«, erklärte Jongleur und erhob sich. »Dies ist nicht der Zeitpunkt für Diskussionen. Alle haben vor langer Zeit Gelegenheit gehabt, ihre Entscheidung zu treffen. Wenn einige noch im letzten Moment abspringen möchten, werden wir sie nicht vermissen – sie haben bereits ihr Scherflein zum Bau des ewigen Lebens beigetragen, das wir übrigen genießen werden. Erhebt eure Kelche!« Die Mehrzahl schloß sich ihm an, aber ein paar Mitglieder der Neunheit schienen immer noch Bedenken zu haben. »Wenn ihr nicht trinkt, wenn ihr nicht den leiblichen Tod eures alten Körpers in der von euch vorbereiteten Form auslöst, werdet ihr nicht hinübergehen. Ihr werdet nicht wie wir anderen zu Göttern werden.«
Die Unsicherheit blieb. Jongleur überlegte, ob er die Prozedur selbst beginnen sollte, aber da er seinen physischen Körper noch gar nicht wirklich ablegte, sondern nur so tat, erschien es ihm nicht geraten zu riskieren, daß man ihn, Wells oder die anderen beiden einer allzu genauen Überprüfung unterzog.
Die Situation wurde durch Ricardo Klement gerettet, der seinen Pokal erhob und ausrief: »Ich glaube daran. Ich glaube an Señor Jongleur, und ich glaube an den Gral. Ad Aeternum! In Ewigkeit!« Er setzte den Pokal an seinen seltsam geformten Käfermund und leerte den Inhalt. Irgendwo in der wirklichen Welt hörten seine Lebenserhaltungssysteme auf zu arbeiten.
Selbst Jongleur sah ihn gebannt an. Einen Moment lang saß Chepri nur da und blickte mit seinem Skarabäusgesicht freundlich von einem zum anderen, dann wurde der Sim schlagartig steif: Der Körper, der ihn beseelt hatte, starb. Die zuckenden, vielgliedrigen Fühler erstarrten, und Klement rutschte von dem großen steinernen Thron und polterte auf den goldenen Boden.
Eine ganze Weile verging; niemand wagte zu atmen. Alle Augen wandten sich von Klements Käfersim ab, der auf der schimmernden Fläche lag wie eine tote Kakerlake in der Mitte des Petersdoms, und richteten sich auf den Sarkophag neben seinem frei gewordenen Sitz. Der blanke tiefrote Deckel ging auf, und zunächst sah man nur Dunkel. Eine Gestalt setzte sich langsam in das Sonnenlicht auf, das von den goldenen Wänden abstrahlte. Sie war menschlich, eine idealisierte Version von Ricardo Klement als nackter junger Mann, gertenschlank und gutaussehend, aber mit ungerichtet blickenden Augen. Mit jeder Sekunde, die die Gestalt bewegungslos schweigend dasaß, wurde das Raunen der Neunheit lauter.
»Wer bist du?« rief Jongleur. Um des dramatischen Effekts willen stand er auf und streckte die Arme aus. »Wie lautet dein Name, du auferstandene Seele, du neugeborener Gott?«
»Ich … ich bin Klement«, sagte der nackte junge Mann. Mit einer langsamen Kopfdrehung schaute er sich die anderen an. »Ich bin Ricardo Klement.«
Ein Laut des Erstaunens machte im Saal die Runde. Ein paar Freuden- und Erleichterungsrufe waren zu hören. »Und wie fühlst du dich?« fragte Jongleur, der mit Verwunderung feststellte, daß sogar sein fernes, unendlich müdes Herz vor Aufregung heftig pumpte. Sie hatten es geschafft! Die älteste Geißel der Menschheit war überwunden, und bald würde auch er unsterblich sein. Die Bruderschaft hatte den Tod getötet, sie hatte den schrecklichen, kaltäugigen Mister Jingo ein für allemal in die Flucht geschlagen.
»Mir … geht es gut.« Das hübsche Gesicht zeigte kein großes Mienenspiel, nur die Augen zwinkerten wie überrascht. »Es ist gut … einen Körper zu haben.«
Andere riefen Fragen. Der neue Klement beantwortete sie langsam, aber die Antworten waren richtig. Nun erhoben auch die übrigen Bruderschaftler ihre Kelche und tranken sie mit dem Ruf »Ad Aeternum!« in langen Zügen gierig aus; einige lachten und riefen einander zu, während sie ihre zeitgebundenen
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