Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
ein erschreckender Schritt.« Er warf seinem falkenköpfigen Vertrauten einen kurzen Blick zu – nicht als Bitte um Hilfe, vermutete Jongleur, sondern als stille Aufforderung, der aufbrausende Yacoubian möge gefälligst den Mund halten. »Das Problem ist, daß eine Geistübertragung im eigentlichen Sinne nicht möglich ist …«
»Was?« Mit gebleckten Fängen sprang Sachmet beinahe von ihrem Sitz auf. »Was machen wir dann hier …?«
»Ein bißchen Beherrschung, wenn ich bitten darf. Du warst nicht verpflichtet, dich näher mit dem Gralsprozeß auseinanderzusetzen, Frau Dedoblanco, aber meines Erachtens wäre es eine durchaus lohnende Beschäftigung gewesen.« Wells runzelte die Stirn. »Ich wollte sagen, daß Geistübertragung in der Form, wie sie häufig in Science-Fiction-Phantasien vorkommt, nicht möglich ist. Der Geist ist kein Ding, auch keine Ansammlung von Dingen – man kann nicht einfach eine elektronische Kopie von allem machen, was sich im Geist befindet, und sie dann … anknipsen.« Er deutete das Knopfdrücken an, das sie vorher vorgeschlagen hatte.
»Der Geist ist gewissermaßen ein Ökosystem, eine Kombination neurochemischer Elemente und die Beziehung zwischen diesen Elementen. Er funktioniert derart komplex, daß sogar die Leute, die unsern Gralsprozeß perfektioniert haben, ihn immer noch nicht ganz begreifen, aber sie – wir – haben herausgefunden, wie man das zuwege bringt, was wir brauchen. Wir können den Geist nicht einfach aus seiner physischen Einbindung heraus auf ein Computersystem übertragen, und wenn das System noch so leistungsstark und komplex ist. Statt dessen haben wir für jeden von uns eine Spiegelversion erzeugt, einen virtuellen Geist sozusagen, und es dann so eingerichtet, daß unser Gehirn sie mit dem Original identisch machen konnte. Nachdem die Ausgangsmatrix einmal geschaffen war – das Rohsystem, in dem ein künstlicher Geist – existieren konnte –, wurdet ihr alle, wie ihr euch sicher erinnert, mit einem sogenannten Thalamusdoppler ausgestattet, einem gentechnisch erzeugten organischen Teil, das sämtliche Gehirnaktivitäten kopiert. Von dem Punkt an habt ihr durch schlichte Betätigung eures Gehirns angefangen, das Duplikat hier im Gralssystem entstehen zu lassen.
Bestimmte in den Doppler eingebaute Elemente haben euren leiblich gebundenen Geist dazu angeregt, sich in dem Online-Geist selbst zu kopieren, etwa einen gespiegelten Erinnerungsspeicher anzulegen, bis beide Versionen parallel existierten. Eure körperlosen Duplikate sind natürlich während dieses Wartens auf den heutigen Tag ohne Bewußtsein geblieben und in einer Art von traumlosem Schlaf gehalten worden. Das ist sehr grob vereinfachend dargestellt, aber sämtliche Unterlagen liegen euch seit langem vor. Ihr könnt alles jederzeit nachschlagen, wenn ihr wollt.« Jetzt lächelte er doch. »Es dürfte allerdings ein bißchen spät dafür sein. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, den Prozeß abzuschließen – doch es handelt sich nicht um eine Übertragung. Während wir hier in diesem virtuellen Raum sitzen und uns unterhalten, wird euer schlafender Online-Geist immer noch weiter aktualisiert. Aber wenn wir ihn einfach weckten, würdet ihr keine Veränderung bemerken – ihr wäret immer noch in euren sterbenden fleischlichen Körpern gefangen. Dafür würde es auf einmal eine identische Version von euch geben, die eure sämtlichen Erinnerungen bis zum Augenblick des Erwachens besäße, eine Version von euch, die ganz und gar im Netzwerk leben könnte. Aber sie würde nicht lange mit euch identisch bleiben, denn im Augenblick der Bewußtwerdung würde sie sofort divergieren und etwas Eigenständiges werden, ein Wesen mit euren Erinnerungen, darauf erpicht, sein eigenes Leben zu führen. Doch obwohl es unsterblich wäre, würdet ihr – und damit meine ich euch, die ihr mir gerade zuhört – dennoch immer älter und kränker werden und schließlich sterben.«
Mit sichtlichem Vergnügen an der Rolle des Lehrers beugte Wells sich vor und sah dabei aus, als spräche er zu einer Gruppe frisch eingestellter Telemorphix-Informatiker und nicht zum Kreis der Mächtigsten auf der Erde. »Aus dem Grund müßt ihr eure physischen Körper ablegen. Wenn ihr das tut, wird in dem Moment, wo euer Körper stirbt, eure virtuelle Kopie zu leben anfangen. Und sie wird dann keine Kopie mehr sein – sie wird die einzige Version sein, die es von euch gibt, mit eurem vollständigen Gedächtnis bis zu dem Moment, wo
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