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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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verfiel rasch zu einer schrumpligen Masse, die ein wenig wie ein Pfirsichkern aussah. Groteskerweise sprach und sang das Wesen weiter, doch die Stimme war mittlerweile so leise, daß Renie nichts mehr verstand. Nach einer Weile wurde deutlich, daß auch das angespannt lauschende Steinmädchen nichts mehr hörte; es blickte noch einmal traurig darauf und warf dann den kümmerlichen Rest unfeierlich in das dunkle, von keiner Spiegelung aufgehellte Wasser.
    »Wird’s der Baum bei mir auch tun?« fragte Renie.
    Das Steinmädchen wirkte bestürzt, aber nicht von der Frage. »Ich denke.«
    Renie setzte sich neben das Mädchen auf den Boden. Sie konnte sich nicht an den Text erinnern, den es gesungen hatte. »Kannst du mir vorsagen?«
    Ihre kleine Begleiterin soufflierte ihr den unbekannten Text mit Lämmelein und Tännelein, und Renie versuchte, ihr Stocken zwischen den Versen mit Klarheit und Lautstärke wettzumachen. Als sie fertig war, wurde es um den See herum totenstill. Etwas, vielleicht ein Wind, bewegte die Äste der Bäume, so daß die Lichter flackerten. Gleich darauf bewegten sich auch die Äste des dunklen Baumes wieder: eine der scheinenden, eiförmigen Früchte kam aus dem versteckten Wipfel zu ihr herab.
    Renie nahm das warme, glatte Ding in beide Hände und zog daran. Als das Innere mit dem kleinen Wesen im Kern aufklappte wie ein Querschnitt in einem Biologieprogramm, kam ihr ein kurzes, aber eindringliches Erinnerungsbild. Der kindliche Ernst des Vorgangs, die naiven Bilder von Tod und Geburt, das alles hatte Anklänge an die Spiele, die sie als Mädchen mit ihrer Freundin Nomsa gemacht hatte, düster feierliche Puppenbestattungen mit »ägyptischem« Pomp draußen hinter dem Wohnblock, wo das hohe Unkraut sie vor den mißbilligenden Blicken ihrer Mütter verbarg. Dies hier war in ähnlicher Weise ein kokettes Spiel mit dem Verbotenen, das nicht recht erwachsen wirkte.
    Als der winzige Säugling die Augen öffnete, wurde sie schlagartig in die Gegenwart zurückgeholt.
    »Zu spät …«, sagte das kleine Wesen mit einer fernen, ganz hauchigen Stimme. »Zu spät … die Kinder sterben … die alten Kinder und die neuen Kinder …«
    Renie merkte, wie die Bitterkeit in ihr aufstieg, wobei sie allerdings die Feststellung, daß ihr Kind männlich war, ein wenig irritierte. »Was soll das heißen, ›zu spät‹? Komm mir nicht mit so einem Scheiß, nach allem, was wir durchgemacht haben.« Sie sah zu dem Steinmädchen hinüber. »Darf ich ihm keine Frage stellen?«
    Ihre Begleiterin blickte starr auf die Augen des Kindes, die wie Perlen in den Höhlen lagen, ohne Iris und Pupille. Das Steinmädchen schien sich vor irgend etwas zu fürchten und gab keine Antwort, und so wandte sich Renie wieder der seltsamen Frucht zu.
    »Hör zu, ich glaub, ich weiß, was du bist, und es könnte sein, daß ich das, was hier läuft, sogar ein bißchen verstehe«, sagte Renie, auch wenn sie nicht so recht wußte, ob sie mit dem Homunkulus, dem Baum oder der Luft sprach. Es ist, als ob man mit Gott redet, schien es ihr. Auch wenn dieser Gott ungewöhnlich kommunikativ ist. Und ungewöhnlich kommuniziert. »Sag mir einfach, was du von uns willst. Sollen wir dich finden oder was? Was war das für eine Sache auf dem schwarzen Berg?«
    Die winzigen Glieder zuckten langsam. »Wollte … die Kinder … in Sicherheit haben …« Der Säugling zappelte wieder, als wäre er in einem qualvollen Traum am Ertrinken. »Die neuen Kinder … können nirgends hin … Jetzt die Kälte …«
    »Was ist mit den Kindern? Warum läßt du sie nicht einfach gehen?«
    »Schmerzen. Absturz … bald. Dann wird’s kurz … sehr warm …« Zu Renies Entsetzen ging das Mündchen sperrangelweit auf, und ein rhythmisches Keuchen ertönte, von dem sie nicht sagen konnte, ob es ein Lachen oder ein klägliches Schluchzen war. So oder so war es ein furchtbares Geräusch.
    »Sag uns doch einfach, was du willst! Warum hast du die Kinder entführt, meinen Bruder Stephen, die vielen andern? Wie können wir sie zurückholen?«
    Das Keuchen hatte aufgehört. Die winzigen Arme bewegten sich noch langsamer. Der Homunkulus wurde schlaff und schwammig und verweste dann mit atemberaubender Geschwindigkeit.
    »… Freilassen …« Die Stimme war ein Flüstern, das kaum noch an ihre Ohren drang. »… Frei … lassen…«
    »Hol dich der Teufel!« schrie Renie. »Komm zurück und sprich mit mir!« Aber das Wesen, das mit ihr gesprochen hatte, schwieg jetzt. Renie versuchte

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