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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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sich an das Lied zu erinnern, mit dem sie es gerufen hatte, aber die Worte gingen ihr im Kopf bunt durcheinander, und so kam zu dem anschwellenden Zorn auch noch inneres Chaos. Ihr war zumute wie in den Situationen, wo Stephen so aufsässig war, daß er einfach nicht gehorchte, egal was sie machte, ja beinahe auf sie losging. Sie ließ den unbekannten Text sein und stimmte heiser die Strophe an, die sie kannte. Sie war wild entschlossen, das Ding aus seinem Versteck zu zerren, es zu zwingen, ihr Rede und Antwort zu stehen.
     
»Schlaf, Kindlein, schlaf!
    Der Vater hüt’ die Schaf.«
     
    Die Frucht in ihren Händen verflüssigte sich und lief ihr durch die Finger. Mit einem angewiderten Grunzen schleuderte Renie den Matsch von sich und wischte sich die Hände am Boden ab, wobei sie jedoch nicht aufhörte zu singen.
     
»Die Mutter schüttelt’s Bäumelein,
    Da fällt herab ein Träumelein.
    Schlaf, Kindlein, schlaf!«
     
    »Hörst du mich?« fauchte sie. »Ein Träumelein, verdammt nochmal!«
    Eine ganze Weile blieb es still. Dann erhob sich ringsherum ein Flüstern, dünn wie ein Todesseufzer.
    »Warum … weh tun? … Hab dich gerufen … aber jetzt … zu spät …«
    »Gerufen …? Du Miststück, du hast gar niemand gerufen, meinen Bruder entführt hast du!« Der so lange in ihr eingeschlossene Zorn platzte jetzt aus ihr heraus. »Wo ist er? Himmeldonnerwetter, sag mir, wo Stephen Sulaweyo ist, oder ich werd dich finden und dich Stück für Stück auseinandernehmen …!« Keine Reaktion. Wütend machte sie den Mund auf, um die Strophe abermals anzustimmen, um das Ding, metaphorisch gesprochen, am Ohr zu fassen und wieder ans Licht zu ziehen, da ließ ein jähes, krampfhaftes Erschauern sie innehalten. Eine heftige peristaltische Bewegung lief durch den glatten schwarzen Stamm des Baumes. Wild peitschten die Äste hin und her, so daß sie von den anderen Bäumen Blätter und Zweige abschlugen, und die Wurzeln wühlten den See auf, bis er schäumte.
    Zuletzt passierte dem Baum genau das gleiche wie vorher den Wutschkindern: Urplötzlich wie ein aufgestörtes Meerestier, das sich in seine Schale zurückzieht, schrumpfte der Baum zusammen. Im Unterschied zu den Kindern aber blieb dabei buchstäblich nichts von ihm übrig. Den einen Moment stand er noch vor ihnen, im nächsten war er fort, und nur der aufgerissene schlammige Boden und das wogende Wasser zeigten, daß es ihn überhaupt je gegeben hatte.
    Mit großen Augen und offenem Mund wandte sich das Steinmädchen Renie zu.
    »Du … du hast ihn totgemacht«, sagte es. »Du hast den Wutschbaum totgemacht!«

Kapitel
Der tapferste Mann der Welt
    NETFEED/NACHRICHTEN:
    ANVAC bringt Kunden wegen Vertragsverletzung hinter Gitter
    (Bild: Haus des Beklagten Vildbjerg im dänischen Odense)
    Off-Stimme: Nach kurzer Haft wieder auf freien Fuß gesetzt, wird der dänische Musikproduzent Nalli Vildbjerg jetzt vom ANVAC-Konzern gerichtlich belangt – er habe, so die Anklage, das Sicherheitsunternehmen nicht über ein Verbrechen informiert, das auf dem von ihm überwachten Anwesen geschehen sei, und damit gegen die Vertragsbedingungen verstoßen.
    Vildbjerg: »Die spinnen, die Typen! Ich hab eine Party gegeben, und jemand hat einen Mantel mitgenommen, der ihm nicht gehört hat – aus Versehen, da bin ich sicher. Diese Irren von ANVAC haben es übers Wachsystem gesehen und nicht nur den Betreffenden verhaften lassen – einen meiner Gäste! –, nein, jetzt wollen sie auch noch mir den Prozeß machen!«
    (Bild: unkenntlich gemachter Rechtsvertreter von ANVAC, von der internationalen Anwaltskanzlei Thurn, Taxis und Posthorn)
    Anwalt: »In unseren Verträgen steht klipp und klar auf Seite 117, daß sämtliche Vergehen vor Ort unverzüglich und wahrheitsgemäß dem Unternehmen gemeldet werden müssen. Als Unterzeichner eines solchen Vertrages ist Herr Vildbjerg nicht berechtigt, irgendein Vergehen zu ignorieren. Es kann nicht sein, daß er eigenmächtig über einen Verstoß gegen dänisches und UN-Recht entscheidet.«
     
     
    > Ich denk einfach an Orlando, sagte sich Sam vielleicht zum zwanzigsten Mal in wenigen Stunden. Dann halt ich schon durch. Auch wenn sie vor Müdigkeit kaum mehr die Beine heben konnte und sich so sehr nach ihren Eltern und ihrem Zuhause sehnte, daß sie vor Kummer am liebsten laut geschrien hätte, war das nichts im Vergleich zu dem, was Orlando Tag für Tag getragen hatte.
    Aber es hat ihn umgebracht, schoß es ihr gleichzeitig durch den Kopf. Was

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