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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Ihre eigene Mutter fiel ihr ein, die sie vor langem schon verloren hatte. »Manche Glücklichen.«
    »Wie sehen sie aus? Sind sie größer als Stiefmütter oder kleiner?« Renie hatte endlich ein Thema gefunden, das ihre Begleiterin interessierte. »Ein Junge, der mal in den Schuhen gelebt hat, aber dann weggelaufen ist, der hat behauptet, er könnte sich an eine Mutter erinnern, eine echte, eine, die ihm allein gehörte.« Das verächtliche Schnauben klang nicht ganz überzeugend. »Angeber haben wir ihn genannt.«
    Renie schloß die Augen und versuchte, die paar Wissensbrocken, die sie hatte, zu einem Bild zusammenzufügen. »Kommt ihr alle als Vögel hierher? Seid ihr am Anfang alle Vögel?«
    Das Lachen des Steinmädchens schallte laut durch das nächtliche Dunkel. »Vögel? Du meinst alle, die Leute in den Schuhen, in den Jacken, die Leute in Butzabä und bei der Pong Dawinong? Wie könnte es so viele Vögel geben?« Es piekte Renie mit einem Finger in den Ann. »Jetzt komm. Ich sag doch, hier treiben sich oft Schnöre rum.«
    Renie sah ein, daß ein besseres Verständnis dieser Welt ihr wenig nützte, wenn eines dieser gräßlichen Wesen sie erwischte. »Okay. Gehen wir weiter.«
     
    Wie alles, was sie seit dem schwarzen Berg gesehen hatte, übertrieb und untertrieb der Wald die Wirklichkeit. Nach wenigen Schritten rückten die Bäume sehr dicht zusammen und wuchsen die oberen Äste von einem Baum zum anderen, so daß der ganze Wald in seinen höheren Regionen eine einzige, meilenweit ausgebreitete, undurchdringliche Matte bildete. Manche reichten nicht so hoch, dafür hatten sie wesentlich ausladendere Kronen als wirkliche Bäume und überschatteten Hunderte von Metern wie riesige grüne Pilze. Viele der freistehenden Sträucher waren unnatürlich abgerundet und regelmäßig und erinnerten an die Pik-, Herz- und Karozeichen auf Spielkarten. Man hätte meinen können, der Wald wäre der Übungsgarten eines Trupps von Formschnittfanatikern.
    Obwohl das hohe Laubdach die Sicht auf die große blauweiße Scheibe über ihnen fast ganz versperrte, glommen jetzt im Astwerk kleine, warme Lichter auf, als wollten sie den verdunkelten Mondschein ersetzen. Diese einzelnen schwachen Lichtlein wurden immer dichter, bis das Waldesinnere schließlich heller war als der Hang, den sie vorher hinaufgestiegen waren, und eine außerordentlich weitläufige glitzernde Laube bildete, die etwas von einer riesigen Weihnachtsdekoration hatte.
    »Was sind das für leuchtende Dinger?«
    »Käfer«, antwortete das Steinmädchen. »Waldkerzen nennen wir sie. Sie sind wie die Kerze vom Smonkin, bloß kleiner.«
    Irrlichter sollten sie heißen, dachte Renie. Diese Dinger, die in alten Sagen die Wanderer vom Weg fortlocken. Sie sind wunderschön. Man könnte diesen Lichtern ewig folgen.
    »Zum Wutschbaum ist es jetzt nicht mehr weit.« Das Steinmädchen sprach leise, als ob sie den Wutschbaum mit lautem Reden verscheuchen könnten.
    Vielleicht ist es ja so, dachte Renie. Hier ist doch alles möglich. Sie hatte allmählich eine Vermutung, was für ein Baum das sein könnte. »Dieser Wutschbaum«, sagte sie. »Was machen wir, wenn wir ihn finden?«
    »Einen Wutsch sagen natürlich.«
    »Aha.« Die Verballhornung von ’s Mondkind zu Smonkin war ihr nicht entgangen – der Andere schien Wörter nach dem Gehör aufzufassen und auf kindliche Art vieles mißzuverstehen. Es handelte sich um einen Wunschbaum. »Du sagst ihm, was du gerne hättest, stimmt’s?«
    Das Steinmädchen überlegte. »So ungefähr.«
    Tief im Wald, wo sie mittlerweile waren, beleuchteten die Schwärme der winzigen Lichter nicht nur das Astgewirr über ihren Köpfen, sondern auch offene Stellen in dem ansonsten heckendichten Wald, langgezogene Tunnels, Pfade, die hinter Biegungen den Blicken entschwanden. Ein vom Boden aufsteigender Dunst verschleierte die funkelnden Pünktchen ein wenig, so daß das Ganze wie die Urlaubspostkarte einer kitschigen Winterlandschaft aussah. Die Erinnerung, die schon eine ganze Weile in Renie arbeitete, kam endlich an die Oberfläche.
    Das sieht aus wie der Ort unter diesem scheußlichen Club – Mister J’s. Wo diese komischen Figuren, diese Kinder oder was sie sonst waren, !Xabbu hingebracht hatten. Sie dachte an die märchenartige Höhlendecke mit ihren herabhängenden Wurzeln zurück, an die Lichtpünktchen, an das bei aller Weiträumigkeit doch beengte Gefühl. In diesem ganzen erfundenen Land war ihr ähnlich klaustrophobisch zumute –

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