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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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direkt an ihr vorbeigehen.« Seine Miene wurde noch sorgenvoller, und Sam verstand. Er mußte nicht erst aussprechen, daß das erst recht galt, falls sie bewußtlos oder tot am Boden lag.
    Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken. Sie hätte sich gern an eines der Gebete erinnert, die sie in der Sonntagsschule auswendig gelernt hatte, aber der Jugendpfarrer hatte es mehr mit dem gemeinsamen Singen beschwingter Jesuslieder gehabt als mit Erklärungen, was man macht, wenn man mit seinen Freunden in einem imaginären Universum gestrandet ist.
    Bei dem Gedanken an die Jugendgruppe und einen Jungen mit Hosenträgern, der Holger geheißen und versucht hatte, sie gegen ihren Widerstand auf der Jugendfreizeit am Lagerfeuer zu küssen, war Sam mehrere Schritte weitergegangen, ehe sie merkte, daß !Xabbu stehengeblieben war. Sie drehte sich um, und der bestürzte Ausdruck auf seinem Gesicht ließ sie schon befürchten, daß der schlimmste Fall eingetreten war, daß er Renies Beine aus einem Gebüsch hervorschauen oder ihre Leiche im Fluß auf dem Bauch treiben sah. Sie wirbelte in seine Blickrichtung herum, sah aber zu ihrer Erleichterung nur eine kleine Baumgruppe auf einem ansonsten leeren Wiesenhügel dicht am Wasser.
    » !Xabbu …?«
    Er stürzte an ihr vorbei auf die Bäume zu. Sam eilte hinter ihm her.
    » !Xabbu , was ist los?« Er berührte einen der Zweige, strich mit den Fingern langsam über die Rinde. Sein Schweigen, seine niedergeschmetterte Miene brachten Sam beinahe zum Weinen. » !Xabbu , was hast du?«
    Er sah ihr ins Gesicht, dann auf die Füße. Sie wollte einen Schritt auf ihn zu tun, doch er packte sie mit überraschender Kraft am Arm. »Nicht bewegen, Sam!«
    »Was? He, du machst mir Angst!«
    »Dieser Baum. Es ist derselbe, an den Renie das Stück Stoff band.« Er schwenkte den ausgefransten weißen Streifen, den er mit sich herumtrug wie eine heilige Reliquie, seit sie ihn entdeckt hatten.
    »Was redest du da? Das ist doch schon zwei Tage her!«
    »Schau, Sam.« Er deutete auf den Boden. »Was siehst du?«
    »Fußspuren. Und was …?« Da begriff sie.
    Hinter ihr, dort wo sie gerade gegangen war, führte die Linie ihrer Fußspuren über den sandigen Boden. Aber ringsherum waren noch viele andere, darunter auch !Xabbus kleine Abdrücke, die noch zierlicher waren als ihre und daher nicht zu verkennen – viel zu viele, um frisch von ihnen gemacht zu sein. Sie setzte ihren Fuß in eine der älteren Spuren. Er paßte genau.
    »O Gott«, stöhnte sie. »Das ist zu scännig …«
    »Ja«, sagte !Xabbu so kläglich, wie sie es von ihm gar nicht gewohnt war. »Wir sind an unseren Ausgangspunkt zurückgekehrt.«
     
    Obwohl es bis zum raschen Übergang in die Nacht noch mindestens eine Stunde hin war, machte !Xabbu ein Feuer; er hatte keine Lust mehr weiterzugehen, und Sam desgleichen. Die dünnen, silbrigen Flammen, die ihren Nachtlagern gewöhnlich eine heimelige Atmosphäre verliehen, wirkten in dem Moment einfach nur fremd.
    »Das ist doch widersinnig«, sagte Sam zum wiederholten Male. »Wir haben uns höchstens mal ein Stückchen vom Fluß entfernt. Auch ohne Sonne können wir uns doch nicht dermaßen verlaufen haben … oder?«
    »Auch wenn unsere Fußspuren nicht hier am Boden wären, wäre mir dieser Ort unvergeßlich. Ich könnte ihn mit keinem anderen verwechseln«, sagte !Xabbu unglücklich. »Nicht den Baum, an dem wir ein Zeichen fanden, daß Renie lebt und uns sucht. Dort, wo ich aufwuchs, kennen wir Bäume genauso, wie wir Menschen kennen – eher besser, da die Bäume an einem Ort bleiben, während die Menschen sterben und der Wind ihre Spuren verweht.« Er schüttelte den Kopf. »Ich merkte schon lange, daß das Land sehr ähnlich wie vorher war, aber ich wollte mir einreden, daß ich mich irre.«
    »Aber das erklärt noch nicht, wie wir uns derart voll verlaufen konnten«, wandte Sam ein. »Vor allem du – das kann doch irgendwie nicht wahr sein.«
    »Euer Problem ist, daß ihr immer noch glaubt, ihr wärt in einer realen Welt«, ließ sich Jongleur vernehmen. Er hatte seit fast einer Stunde nichts mehr gesagt, und sie zuckten bei seiner plötzlichen Bemerkung zusammen.
    »Was soll das jetzt wieder heißen?« fragte Sam unwirsch. »Es gibt doch auch hier oben und unten, oder? Links und rechts. Wir sind dem Fluß durch dein ganzes verdumpftes Netzwerk gefolgt…«
    »Das hier ist nicht mein Netzwerk«, unterbrach Jongleur sie. »Meines wurde von Technikern, Ingenieuren, Designern

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