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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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ist?«
    Das Steinmädchen runzelte die Stirn. »Das ist der Wutschbaum. Sehen die anders aus, wo du herkommst?«
    Darauf fiel Renie keine sinnvolle Antwort ein. »Und was machen wir jetzt?«
    »Wir sagen einen Wutsch und stellen eine Frage.« Es sah Renie erwartungsvoll an. »Willst du zuerst?«
    »Ich weiß nicht, wie das geht.« Beim Anblick dieses absonderlichen, einsamen Ortes wurde ihr mit einemmal bewußt, wie müde und ausgelaugt sie war. »Ich guck erst mal zu, wie du es machst.«
    Das Steinmädchen nickte. Es raffte sein formloses Kleid etwas hoch, setzte sich auf den Boden und sammelte sich. Dann begann es klanglos und rührend falsch eine bekannte Melodie zu singen, allerdings zu einem Text, den Renie nicht kannte.
     
»Schlaf, Kindlein, schlaf!
    Da draußen ist ein Schaf,
    Da draußen ist ein Lämmelein
    Auf einem grünen Tännelein.
    Schlaf, Kindlein, schlaf!«
     
    In der anschließenden Stille meinte Renie zu sehen, wie das helle Zucken im dunklen Wasser langsamer und trüber wurde, dafür aber schien der Baum das Licht zu absorbieren, denn unter der glatten schwarzen Rinde glomm ein milder Schimmer auf, der ganz leichte Anflug eines traubenvioletten Farbtons. Ein Schütteln und Knarren ging durch den Wutschbaum. Eine Schrecksekunde lang dachte Renie, der Baum wolle sich auf seine Wurzeln stellen, doch statt dessen krümmten sich langsam die Äste. Etwas kam raschelnd aus den oberen Regionen herab, wo es im Blattwerk der umstehenden Bäume verborgen gewesen war – eine Frucht, die ein dunkles, fleischrotes Leuchten hatte wie eine Laterne und die am Ende eines langen schwarzen Astes baumelte.
    Das Steinmädchen hob seine kleinen Hände hoch, und die Frucht legte sich hinein. Es zog mit einem kurzen Ruck, und der befreite schwarze Ast schnellte wieder in die Höhe. Die Kleine blickte zu Renie auf, das glückliche Gesicht in erdbeerfarbenes Licht getaucht, die Lochaugen groß und rund. Obwohl sie es erwartet hatte, war es doch, wie der Ausdruck des Mädchens deutlich sagte, ein Wunder.
    Das Glitzern in den anderen Bäumen wurde schwächer, so daß die Frucht, die ungefähr die Größe und Form einer Aubergine hatte, jetzt am hellsten schien. Renie beugte sich vor, denn das Steinmädchen packte das leuchtende Ding fest mit beiden Händen und zog es in zwei Hälften auseinander.
    Im Innern lag eine winzige Gestalt, ein kleines Kind, wie es aussah, oder jedenfalls wie ein Kind geformt, und zwar mit gut erkennbaren weiblichen Geschlechtsmerkmalen. Die Augen waren geschlossen, als schliefe es, und an den auf dem Bauch ruhenden Händen waren die Fingerlein durchsichtig wie Glasfäden.
    »Ich hab einen Wutsch gesagt!« flüsterte das Steinmädchen aufgeregt und ein wenig bang. Beim Klang seiner Stimme regte sich die Kindgestalt in ihrem schimmernden Bett.
    »Einen … Wutsch …« Renie wehrte sich innerlich gegen die absurde Traumlogik der Szene. Was sie lediglich für einen Versprecher gehalten hatte, war deutlich mehr.
    Das Steinmädchen zog den Homunkulus dicht an sich, so daß es ihn fast mit den Lippen berührte, als es sich darüber beugte und seine Fragen stellte. »Wird das Auslöschen noch näher herankommen?«
    Das kleine Wesen rührte sich wieder. Als es antwortete, die Augen immer noch fest geschlossen, bildete seine Stimme einen unheimlichen Kontrast zu seinem kindlichen Aussehen. Es war ein dumpf hallender Klageton, der aus weiter Ferne zu kommen schien.
    »… Auslöschen … fängt erst an …«
    »Aber was wird mit uns geschehen, wenn die ganze Welt im Auslöschen vergegangen ist? Wo sollen wir leben?«
    Der winzige Mund kräuselte sich zu einem feinen Lächeln, dann fing der Wutsch zu singen an. »Ziehet durch, ziehet durch, durch die goldne Brücke …«
    Renie unterdrückte einen abergläubischen Schauder. Trotz der leisen, gespenstischen Stimme und der ganzen phantastischen Szenerie hatte dies alles einen Sinn – oder wenigstens hatte sein Erbauer einst eine bestimmte Absicht damit verfolgt. Wie verstörend es auch sein mochte, solchen gemurmelten Verkündigungen zu lauschen, so widerstand sie doch der Versuchung, zu vergessen, daß durch diesen Mund letztlich nur eine Maschine sprach. Unter diesem ganzen Hokuspokus floß das binäre Blut eines logisch begreifbaren Systems, davon konnte nichts sie abbringen, schon gar nicht ein Blendwerk, das kaum mehr war als ein völlig aus den Fugen geratenes Spieldesign.
    Der Wutsch in der Hand des Steinmädchens hatte angefangen zu verkümmern und

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