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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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wie auf einem prächtigen Segelschiff, das leider in einer Flasche steckte.
    Sie war sich plötzlich sicher, daß der Andere auch den Ort in Mister J’s geschaffen hatte, obwohl er in der äußeren Netzwelt bestand, nicht im Gralsnetzwerk. Ein kleines … ja, was? Ein Versteck? Ein Asyl? Jedenfalls etwas, das er in diesem gräßlichen Umfeld für sich selbst gebaut hat. Heißt das, daß die Kinder dort – Schlupf, Twill, ich weiß nicht mehr alle Namen – genau solche waren wie die hier? Gestohlene Kinder?
    Wenn man die beiden Orte verglich, ging es ihr plötzlich durch den Kopf, fand man bestimmt einen Hinweis auf die Persönlichkeit des Andern, sofern »Persönlichkeit« das richtige Wort war. Ein durchgängiges Motiv in den Umgebungen, die er sich schuf. Einen charakteristischen Zug, bei dem Renie endlich einmal ihre Informatikkenntnisse nutzbringend anwenden konnte.
    Falls ich je dazu komme, eine Weile ungestört nachzudenken …
    »Da ist er«, verkündete das Steinmädchen. »Der Wutschbaum.«
     
    Renies erster Eindruck war, daß sie es mit dem nächsten Fall von vollkommenem Aneinander-vorbei-Reden zu tun hatte, denn was dort auf der Lichtung des Waldes vor ihr lag, war überhaupt kein Baum, sondern ein weites, dunkles Wasser, ein See oder ein großer Teich. Und nicht einmal dessen war sie sich zunächst sicher, denn obwohl der Mond unmittelbar darüber am Himmel hing, groß und hell wie ein extraterrestrisches Raumschiff im Landungsanflug, gab es keinerlei Spiegelung im Wasser. Wenn man von einer Menge kleinerer Lichter absah, die unter der Oberfläche schimmerten, konnte der See ein großes schwarzes Loch im Waldboden sein.
    Mit zusammengekniffenen Augen, als spähte sie in einen verstaubten Spiegel, trat Renie näher. Die Lichter im Wasser waren keine Punkte wie die Waldkerzen, sondern eher so etwas wie aktive Wellenformen mit einem schwachen rötlichen und silbernen Schein, die sich entweder rasch bewegten oder rhythmisch an- und ausgingen. Sie kauerte sich nieder und starrte das hypnotische Lichtspiel an, dann streckte sie die Hand nach dem dunklen Wasser aus.
    »Nicht!« rief das Steinmädchen. »Nicht da rein. Wir müssen rumgehen.«
    »Warum? Was sind das für Lichter?«
    Ihre Gefährtin legte kleine, kühle Finger um Renies Arm. »Das sind bloß … die gehören hier einfach her. Willst du nicht mit zum Baum kommen?«
    Renie ließ sich in die Höhe ziehen. »Ich dachte, du hättest gesagt, daß er hier ist.«
    »Ach was. Da drüben ist er. Siehst du ihn denn nicht?«
    Renies Blick folgte der zeigenden Hand des Mädchens. Halb um den See herum ragte ein Gebilde, das deutlich größer war als die umgebende Vegetation, am Ufer auf, genauer gesagt, aus dem Wasser, so daß es aussah wie ein Riese, der sich die Füße kühlte. Es war schwer zu erkennen: Die anderen Bäume hatten ihre Kronen voll funkelnder Feenlichter, und im Wasser spielten die bunt schimmernden Formen, doch das vom Steinmädchen gewiesene Ding war dunkel.
    Während sie an dem schwammigen Ufer entlangwateten, wurde Renie die Vorstellung nicht los, daß die Lichter im Wasser sie verfolgten wie neugierige Fische, aber sie war sich nicht sicher, ob das nicht bloß an ihrem eigenen wechselnden Blickwinkel lag. Sie bückte sich und wedelte heftig mit der Hand über dem Wasser, um vielleicht die zarten Lichtformen damit zu erschrecken, doch falls diese lebendige Wesen waren, beeindruckte sie das nicht sehr.
    Von allen realitätsfernen Gestalten, denen Renie bisher in dieser Simwelt begegnet war, kam ihr der Wutschbaum wie die armseligste Kopie einer lebendigen Form aus der wirklichen Welt vor. Er war kaum ein Baum zu nennen: allein sein halbwegs senkrechter Mittelteil, der als Stamm durchgehen mochte, und die Verbreiterung unten und oben paßten einigermaßen. Seine äußere Umkleidung war glänzend und glatt bis auf die runzligen Stellen an Ast- und Wurzelbiegungen und glich mehr der Haut eines schwarzen Delphins als der Rinde eines Baumes. Weiter oben verschwanden die sich verzweigenden Astformen im Laubwerk anderer, normaler aussehender Bäume; die gummiartigen schwarzen Wurzeln hingen im düsteren Wasser wie die Tentakel eines halb an Land geschleiften Tintenfisches. Das Ding machte einen höchst deplazierten Eindruck, so als wäre eine außerirdische Lebensform versehentlich in diese Umgebung geraten.
    Wenn man bedenkt, wie verrückt alles andere hier ist, sagt das eine ganze Menge, fand Renie. »Bist du sicher, daß das … ein Baum

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