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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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kochte und den Haushalt
führte. Als Lydia an Krebs erkrankte und ihr das rechte Bein amputiert wurde,
stellte meine Großmutter zwei neue Hausmädchen ein – eines kümmerte sich um
Lydia. Lydia brauchte nie mehr zu arbeiten. Sie hatte ein eigenes Zimmer und
ein paar Lieblingswege, auf denen sie in ihrem Rollstuhl durch das große Haus
fuhr, und sie wurde die aufopfernd umsorgte Invalidin, die meine Großmutter,
wie sie immer gedacht hatte, eines Tages auch werden könnte – und jemand wie
Lydia hätte sich dann um sie gekümmert. Botenjungen und Gäste, die in unser
Haus kamen, verwechselten Lydia oft mit meiner Großmutter, denn Lydia wirkte
recht majestätisch in ihrem Rollstuhl und war etwa so alt wie meine Großmutter;
jeden Nachmittag trank sie mit meiner Großmutter Tee, und sie spielte jetzt im
Bridge-Club meiner Großmutter Karten – mit genau denselben Damen, denen sie
früher den Tee serviert hatte. Kurz bevor Lydia starb, war selbst meine Tante
Martha überrascht, wie ähnlich sie doch meiner Großmutter war. Dennoch sagte
Lydia immer den Botenjungen und Gästen – mit einem indignierten Tonfall, den
sie meiner Großmutter abgeschaut hatte – »Ich bin nicht Mrs.   Wheelwright, ich bin Mrs.   Wheelwrights ehemaliges Hausmädchen.« Es war
genau die gleiche Art, in der meine Großmutter sagte, ihr Haus sei nicht der ›Gravesend Inn‹.
    Meine Großmutter war also nicht bar jeder Menschlichkeit. [35]  Und wenn sie im Abendkleid im Rosengarten
arbeitete, dann war es in einem Abendkleid, das sie nicht mehr zum Ausgehen
anzog. Selbst im Rosengarten wollte sie standesgemäß aussehen. Wenn diese
Kleider bei der Arbeit zu schmutzig geworden waren, warf sie sie fort. Als
meine Mutter ihr vorschlug, sie doch reinigen zu lassen, erwiderte meine
Großmutter: »Wie bitte? Daß sich die Leute von der Reinigung fragen, was ich wohl
mit diesem Kleid gemacht habe, daß es so schmutzig
ist?«
    Von meiner Großmutter lernte ich, daß Logik nur relativ ist.
    Doch diese Geschichte dreht sich um Owen Meany, darum, welchen
Einfluß er und seine Stimme auf mich hatten. Seine Zeichentrickfilmstimme
beeindruckte mich nachhaltiger als die gebieterische Weisheit meiner
Großmutter.
    Zum Schluß wurde Großmutter von ihrem Gedächtnis im Stich gelassen.
Wie viele alte Menschen konnte sie sich besser an ihre eigene Kindheit erinnern
als an das Leben ihrer Kinder oder das ihrer Enkel oder das ihrer Urenkel. Je
näher die Ereignisse an der Gegenwart lagen, desto lückenhafter war ihre
Erinnerung daran. »Ich weiß noch, wie du als kleiner Junge ausgesehen hast«,
sagte sie vor nicht allzu langer Zeit zu mir, »aber wenn ich dich jetzt so
ansehe, weiß ich nicht, wer du bist.« Ich sagte ihr, daß es mir bei meinem
Anblick manchmal genauso ginge. Und in einem Gespräch über ihr Gedächtnis
fragte ich sie, ob sie sich noch an den kleinen Owen Meany erinnere.
    »Der Gewerkschafter!« sagte sie. »Meinst du den?«
    »Nein, Owen Meany!« wiederholte ich.
    »Nein«, erwiderte sie. »Bestimmt nicht.«
    »Die Granitfamilie?« versuchte ich es weiter. »Die Meanys hatten den
Granitsteinbruch. Erinnerst du dich daran?«
    »Granit«, schnaubte sie. »Bestimmt nicht!«
    »Vielleicht erinnerst du dich noch an seine Stimme?« fragte ich
meine Großmutter, als sie fast hundert Jahre alt war.
    Doch sie hatte keine Geduld mit mir; sie schüttelte den Kopf. [36]  Und da begann ich meinen Mut zu sammeln, um Owens
Stimme nachzuahmen.
    »Einmal hab ich das Licht im Geheimgang ausgemacht und ihm Angst
eingejagt«, fuhr ich fort.
    »Das hast du doch ständig gemacht«, sagte sie gleichgültig, »du hast
es doch sogar mit Lydia gemacht – als sie noch beide Beine hatte.«
    »MACH DAS LICHT AN !« sagte Owen Meany. » IRGENDWAS LECKT
AN MEINEM GESICHT RUM! MACH DAS LICHT AN! ES HAT EINE ZUNGE! IRGENDWAS LECKT AN
MIR!«
    »Es ist nur eine Spinnwebe, Owen«, sagte ich ihm damals.
    »ES IST ZU NASS FÜR EINE SPINNWEBE! ES IST EINE ZUNGE ! MACH DAS LICHT
AN!«
    »Hör auf!« unterbrach mich meine Großmutter. »Ich erinnere mich, ja,
ich kann mich erinnern – grundgütiger Himmel«, seufzte sie. »Mach das nie wieder!« schimpfte sie. Doch es war meine Großmutter,
die mir zum ersten Mal die Gewißheit vermittelte, daß ich Owen Meanys Stimme
tatsächlich nachahmen konnte. Obwohl ihr Gedächtnis weg war, erinnerte sich
Großmutter an Owens Stimme; ob sie sich auch daran erinnerte, daß er das
Werkzeug zum Tod ihrer Tochter gewesen war, sagte sie

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