Owen Meany
kniete
in den Trümmern auf dem Fußboden; sie setzte sich zurück auf die Fersen und
breitete ihr Gewand sorgfältig über ihre Oberschenkel, und die Nonne, die Owen
in den Armen hielt, bettete seinen Kopf in den Schoß der Schwester, die sich
auf dem Boden niedergekniet hatte. Die anderen beiden Nonnen versuchten die
Kinder zu beruhigen – sie ein wenig von ihm zurückzuhalten, doch die Kinder
drängten sich um Owen; alle weinten.
» DUNG SO – KEINE ANGST«, sagte er zu ihnen, und sie hörten auf
zu weinen. Die Mädchen standen dichtgedrängt in der Tür.
Major Rawls nahm seine Krawatte ab und versuchte Owen einen
Druckverband anzulegen – am Arm, genau über dem Ellbogen. Ich nahm Owen die
Krawatte ab und versuchte ihm auf die gleiche Weise am anderen Arm einen
Druckverband anzulegen. Beide Unterarme waren weg, direkt unter dem Ellbogen
abgerissen; dennoch blutete er nicht allzu heftig, noch nicht. Ein Arzt
erklärte mir später, daß sich im ersten Augenblick wohl die Arterien [850] in seinen Armen verkrampft hatten; er blutete
zwar, aber nicht so stark, wie man es bei einer derart gewalttätigen Amputation
erwarten mochte. Das Gewebe, das an seinen Armstümpfen hing, war so dünn und
zart wie Spinnfäden – so fein verwoben wie geklöppelte Spitze. Außer an den Armen
war er nirgends verletzt.
Dann begannen seine Arme stärker zu bluten; je fester Major Rawls
und ich die Druckverbände anzogen, desto heftiger blutete Owen.
»Holen Sie Hilfe«, sagte der Major zu einer der Nonnen.
» JETZT WEISS ICH, WARUM DU HIERSEIN MUSSTEST «,
sagte Owen zu mir. » VERSTEHST DU’S JETZT AUCH ?«
»Ja«, sagte ich.
» ERINNERST DU DICH, WIE OFT WIR GEÜBT HABEN ?«
»Ja«, sagte ich.
Owen versuchte die Arme anzuheben; er versuchte, die Hände nach mir
auszustrecken –, ich glaube, er wollte mich berühren. In diesem Augenblick
erkannte er, daß er keine Arme mehr besaß. Er schien von dieser Entdeckung
nicht sonderlich überrascht.
» ERINNERST DU DICH AN WATAHANTOWET ?«
»Ja«, sagte ich.
Dann lächelte er die Frau in der »Pinguintracht« an, die es ihm in
ihrem Schoß möglichst bequem zu machen versuchte; ihr Schleier war mit Blut
bespritzt, und sie hatte ihn so gut wie möglich in ihr schwarzes Gewand
eingehüllt –, denn er zitterte.
»›… UND WER DA LEBT UND GLAUBT AN MICH, DER WIRD
NIMMERMEHR STERBEN ‹«, sagte Owen zu ihr. Die Nonne nickte
zustimmend; sie schlug ein Kreuz über ihm.
Dann lächelte Owen Major Rawls an: » BITTE SORGEN
SIE DAFÜR, DASS ICH DAFÜR IRGENDEINE MEDAILLE BEKOMME «, bat er
den Major, der den Kopf neigte – und den Druckverband fester anzog.
[851] Nur einen kurzen Augenblick lang
wirkte Owen leidend – etwas Ernsteres und Düstereres als Schmerz glitt über
sein Gesicht, und er sagte zu der Nonne, die ihn hielt: » MIR IST SCHRECKLICH KALT, SCHWESTER – KÖNNEN SIE MIR NICHT HELFEN ?«
Dann war, was immer ihn bekümmert hatte, wieder von ihm gewichen, und er
lächelte erneut –, er sah uns alle an mit seinem typischen Lächeln, das einen
rasend machen konnte.
Dann sah er mich an. » DU WIRST KLEINER, ABER ICH KANN
DICH NOCH SEHEN !« sagte Owen Meany zu mir.
Dann verließ er uns; dann ging er von uns. Ich konnte an seinem
beinahe fröhlichen Gesicht erkennen, daß er mindestens schon so hoch oben war
wie die Palmen.
Major Rawls sorgte dafür, daß Owen eine Medaille bekam. Man bat mich
um einen Augenzeugenbericht, doch Major Rawls kümmerte sich darum, daß der
erforderliche Papierkram auf den Dienstweg geschickt wurde. Owen Meany erhielt
eine Tapferkeitsmedaille: »Für heldenhaften Einsatz des eigenen Lebens ohne
unmittelbare Feindberührung.« Major Rawls zufolge war die Medaille, die Owen
verliehen wurde, durchaus keine alltägliche Auszeichnung. Mir bedeutete es
natürlich nicht viel, wie die Auszeichnung nun genau einzuordnen war, die Owen
erhalten hatte, aber Rawls hatte wohl recht, daß die Medaille Owen eine ganze
Menge bedeutete.
Major Rawls kam nicht zu Owens Beerdigung. Als ich mit ihm
telefonierte, entschuldigte er sich dafür, daß er die Reise nach New Hampshire
nicht unternommen hatte; doch ich versicherte ihm, ich könne gut verstehen, was
er empfand. Major Rawls hatte bereits genügend mit der amerikanischen Fahne
bedeckte Särge gesehen; und auch genügend Helden. Major Rawls hatte nie all das
gewußt, was Owen gewußt hatte; der Major wußte lediglich, daß Owen ein Held war – daß er auch ein Wunder war, wußte er
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