Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
silbernen Buchstaben des Titels glänzten, als wollten sie jeden Moment vom Deckel springen.
»Feuer«, flüsterte sie und betrachtete nachdenklich die gläserne Öllampe auf der Schreibtischplatte. Man musste dieses verfluchte Werk des Unaussprechlichen zerstören, am besten verbrennen. Aber ließ sich damit das heraufbeschworene Unheil abwenden? Pala bezweifelte das. Die Worte der Macht seien gesprochen, hatte Zitto behauptet. Sein heimtückisches Vorhaben war beinahe erreicht. Warum jedoch las er dann überhaupt zu dieser Stunde so eifrig in dem Buch? Nur aus Gewohnheit? Oder gedachte er weitere finstere Ränke zu schmieden?
Wie ein Schwall kalten Wassers riss das Geräusch von Schritten Pala jäh aus ihrer Versunkenheit. Jemand schlurfte die Stufen herauf. Wie gelähmt starrte sie auf das Buch. Unten hörte sie Zitto mit den Wachjamben sprechen. Was sollte sie tun? Das Buch verbrennen? Damit würde sie das ganze Schloss alarmieren und die Gelegenheit, ihren Plan vielleicht doch noch zu verwirklichen, wäre ein für alle Mal vertan. Auch ohne das Pergament mit dem Meister-Sonett konnte sie es noch schaffen – wenn ihre Überlegungen nicht einen verhängnisvollen Fehler enthielten.
Pala schlug die Zauberfibel an einer x-beliebigen Stelle auf, schnappte sich ein Stück Papier, stopfte es in ihren Halsausschnitt, raffte Tintenfass und Feder vom Schreibtisch zusammen und lief, beides in die Taschen ihres Kleides steckend, zum Fenster. Während sie hinauskletterte, hörte sie schon Zittos Fluchen nahen – er musste wohl wieder gestolpert sein. Gerade als er das Gelass betrat, tauchte sie außer Sicht. Von bangen Gedanken begleitet kletterte sie so schnell wie möglich an der Turmwand hinab. Was würde Zitto denken, wenn er sein Buch umgeblättert vorfand? Von Zeit zu Zeit verirrte sich der Wind durchs Fenster, ein neugieriges Lüftchen könnte mit den Seiten gespielt haben – wenn der Schlossherr sich doch nur mit dieser harmlosen Erklärung zufrieden gab!
Auf ihrem Weg nach unten durchlebte Pala einmal mehr gefährliche Momente. Es war dunkel. Sie kam nur tastend voran. Der Wind schüttelte sie und pfiff ihr in den Ohren. Über all dem lag das unermüdliche Geschrei der Wortklauber im Burghof und betäubte ihr fast die Sinne. Dennoch erreichte sie wohlbehalten das Fenster ihres Gemachs. Tozzo erwartete sie bereits.
»Hast du Giuseppe vor dem siedenden Öl gewarnt?«, fragte sie hastig.
»Ja, ja, ja. Ihn und die anderen. Und wie war’s bei dir?«
»Schrecklich. Ich wäre fast abgestürzt, Zitto hätte mich beinahe entdeckt und das Meister-Sonett war auch nicht da.«
»Das ist aber ungut.«
»Wem sagst du das! Jetzt hat mir Zitto sein Spiel aufgezwungen: alles oder nichts.« Pala kramte ihre Beutestücke hervor und breitete sie auf dem Schemel aus.
»Was hast du vor?«, fragte Tozzo verwundert.
»Ich schreibe das Meister-Sonett aus dem Gedächtnis auf.«
»Aber du hast doch gesagt…«
»Stör mich nicht. Jede Sekunde zählt.«
Pala öffnete den Deckel des Tintenfasses und tauchte die Feder hinein. Wieselflink ließ sie den Kiel über das Papier kratzen: je elf Silben in einer Reihe, jeweils vier davon in den ersten zwei Strophen und drei in den letzten beiden, vierzehn Zeilen insgesamt.
Während sie zum Schluss kam, erscholl von oben ein lautes Geschrei, das sogar den Lärm der aufständischen Wortklauber übertönte. Die Decke erbebte unter stampfenden Schritten und Zittos Stimme hallte durch den Treppenschacht. Pala rollte das Blatt zusammen und streckte es Tozzo entgegen.
»Hier, nimm der Königin Kind und tu mit ihm, wie ich’s dir gesagt habe. Alles hängt jetzt von dir ab, mein Kleiner.«
Die großen Augen des Wortklaubers sahen sie traurig an. »Werden wir uns wieder sehen, Pala?«
»Ich weiß es wirklich nicht, Tozzo. Aber ich bewahre dein Bild im Sinn. In unseren Träumen können wir uns treffen, wann immer es uns gefällt.« Sie küsste das kleine Scheusal auf die Stirn. »Und nun beeil dich, Tozzo!«
Der Wortklauber kletterte geschickt ins Freie und verschwand. Pala wollte schon aufatmen, als er noch einmal nach Art der Fledermäuse von oben her im Fenster erschien und rief: »Du bist Tozzos allerallerallerbeste Freundin.« Zwei dicke Tränen tropften ihm aus den Augen. Dann flog hinter Pala die Tür auf.
»Den Klauber, fangt ihn!«, zirpte eine befehlsgewohnte Stimme. Pala wirbelte zu dem Hauptjambus herum. Fünf weitere Schaben stürmten das Turmzimmer und verkeilten sich in der
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