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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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dem Leib gepresst. Keuchend, nur an ihren sehnigen Fingern über dem Abgrund baumelnd, lauschte sie den losgerissenen Steinen nach, die – als würde ein seit Jahren wiederkehrender Albtraum unversehens wahr – tief unter ihr auf harten Grund prasselten. Ihnen mit Blicken zu folgen ersparte sich Pala. Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Ruhig atmen!, rief sie sich den ersten Punkt des Einmaleins der Fassadenkletterer in den Sinn. Mit jeder Leerung der Lungen blähten sich ihre Wangen. Der Schweiß rann ihr in Strömen über Gesicht und Rücken. Ihre Finger wurden allmählich taub, während ihre suchenden Zehen einfach keinen Halt finden konnten. Und jetzt hörte sie über sich auch noch ein Geräusch. Das Fenster wurde geöffnet. Entsetzt blickte sie nach oben.
    Zitto war über ihr. Zuerst erschien seine Nase, dann auch ein Teil des Gesichts. Er sog tief die frische Nachtluft ein. Zum Glück konnte er nicht ohne Verrenkungen am Turm hinabblicken und das dort hängende Mädchen sehen. Doch ein Mucks von ihr, ein einziger abbröckelnder Stein würde unweigerlich seine Aufmerksamkeit erregen. Schon schob er sich weiter vor. Pala sah, wie seine Augen den Schlossberg hinaufwanderten. Sie glaubte schreien zu müssen…
    Da schlug die Glocke des Uhrenturms Viertel nach zehn.
    Zittos Kinn fuhr mit einem Ruck nach oben. Vielleicht hatte der Rathausturm ihn an irgendein Versäumnis erinnert, jedenfalls verschwand sein Kopf wieder hinter dem Fenstersims.
    Pala atmete auf. Als sie ihre Beine ein wenig anwinkelte, fand sie endlich einen breiten Spalt, in den sie rasch ihre Zehen steckte. Die Entlastung für ihre Finger tat unendlich gut. Hoffentlich kam Zitto nicht auf die Idee, das Fenster gleich wieder zu schließen!
    Nachdem der Wind Palas Schweiß getrocknet und sie sich ausreichend erholt hatte, setzte sie den Aufstieg fort. Ihre Befürchtungen zerstreuten sich, als sie das Buntglasfenster weit offen stehen sah. Zitto saß hinter seinem Schreibtisch und arbeitete bei gelbem Licht, wie er es schon in hunderten von früheren Nächten getan haben musste. Er saß über ein großes Buch gebeugt und murmelte leise Worte vor sich hin. Auf dem Schreibtisch neben ihm lag, ganz wie von Pala erwartet, das Meister-Sonett. Zwei-, dreimal sprang er auf, eilte zu einem der Regale, zog ein dünnes Buch oder ein Dokument heraus und warf einen kurzen Blick hinein. Stets kehrte er schnell wieder zu seinem Platz zurück, mal zufrieden nickend, dann wieder ärgerlich den Kopfschüttelnd. Die Zeit verstrich.
    Um auf ihrem Spähposten überhaupt so lange ausharren zu können, hatte Pala die Unterarme auf den Fenstersims und die Füße auf einen vorstehenden Stein gestützt. Zittos Streifzüge durch das Turmgemach ließen jedes Mal ihren Atem stocken. Ein Blick aus dem Fenster und er musste das Mädchen entdecken. Pala fragte sich voller Unbehagen, wann ihn das Geläut des Kampanile erneut aufschrecken würde.
    Wieder schien ihr das Glück hold zu sein. Als habe ihn überraschend die Erinnerung an ein unverzeihliches Versäumnis ereilt, fuhr Zitto plötzlich aus seinem Stuhl hoch und lief aus dem Zimmer.
    »Jetzt oder nie!«, flüsterte sie, schwang sich durch das schmale Fenster und rutschte kopfunter zu Boden. Zitto hatte die Tür zur Treppe offen stehen lassen, er würde gewiss bald wiederkehren. Während der Uhrenturm zweimal ein Bim! in den Zeitstrom warf, huschte Pala zum Schreibtisch. Ihre Augen überflogen das Durcheinander, zuerst planvoll, dann immer fieberhafter…
    »Der Schuft hat das Meister-Sonett mitgenommen«, zischte sie verzweifelt. »Was jetzt?«
    Niedergeschmettert sank sie in Zittos Sessel zusammen und kämpfte gegen die Tränen an. Eher teilnahmslos ließ sie noch einmal ihren Blick über den Schreibtisch wandern und erst jetzt bemerkte sie das aufgeschlagene Buch. Natürlich hatte sie den großen Folianten schon vorher gesehen, aber nicht bewusst wahrgenommen.
    Die handgeschriebenen Seiten des Buches waren noch gelber, noch ausgefranster und abgegriffener als jene des gesuchten Pergaments. Neben den engen Zeilen aus schwarzbrauner Tinte waren allerlei Symbole und Skizzen zu sehen, die Pala zwar nicht deuten konnte, die ihr aber eine unerklärliche Furcht einjagten. Ihre Hand begann heftig zu zittern, als sie den Deckel nahm, ihn umklappte und den Namen des Buches las.
     
    Die Macht der Worte
     
    Erschrocken zog Pala dem Arm zurück. Der schwarzlederne Einband der Zauberfibel sah uralt und brüchig aus, aber die

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