Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Fensternische. Vom Wortklauber war nichts mehr zu sehen.
Alsbald stapfte Zitto herein. Sein Blick wanderte zielsicher zu dem Schemel hin, auf dem noch das Tintenfass stand. Die Feder hielt Pala in der Hand. Er nickte, als habe er nichts anderes erwartet.
»Was hat Sie mit dem Schreibzeug angestellt?«
»Geschrieben«, antwortete Pala.
»Und wo ist das Ergebnis Ihrer Arbeit?«
Der Hauptjambus antwortete an Palas Stelle. »Ein Wortklauber ist durch das Fenster entkommen. Vielleicht hat sie ihm eine Botschaft mitgegeben.«
»Was für eine Mitteilung war das?«, wandte sich Zitto wieder an seine Urenkelin. Sein zornzerknittertes Wachsgesicht war ihr nun ganz nahe. Es sah zum Fürchten aus.
»Ich verweigere die Aussage.«
»Das darf Sie nicht.«
»Darf ich doch.«
»Darf Sie nicht.«
»Darf ich…«
»Still!«, schrie Zitto wutschnaubend und diesmal ließ sein Bannwort sogar Pala stocken. Sich an den Hauptjambus wendend, befahl er: »Bringe Er sie zur großen Halle hinüber und sperre sie in den Käfig. Wir wollen Uns nur schnell umsehen, ob sie noch mehr aus meinem Zimmer gestohlen hat. Dann kommen Wir nach und werden sie verhören.«
Zitto eilte aus dem Raum und Pala wurde von den Jamben abgeführt. Wieder ging es die ausgetretenen Stufen des Bergfrieds hinab, durch Gänge hindurch und andere Treppen hinauf. Die rüde Behandlung der Schaben ertrug Pala mit Gelassenheit – wenn sie nur Tozzo nicht fingen!
Bald wurde sie in den Speisesaal gestoßen. Im schwachen Licht der wenigen noch brennenden Kerzen kam er ihr nun eher wie eine mittelalterliche Folterkammer vor. Der Hauptjambus ließ den Hungerkäfig eigenhändig mithilfe von Ketten und Rollen auf den Boden herab. Pala stand, eingekeilt zwischen zwei Fünffüßigen Jamben, am Kopfende der langen Tafel und verfolgte mit Blicken das auf sie herniederfahrende schwarze Eisengestell. Mit dumpfem Poltern kam es neben ihr zum Stehen. Ein Jambus öffnete die quietschende Tür.
»Hinein mit dir!«, befahl Zittos Leibgardist.
Pala gehorchte. Sie musste den Kopf einziehen, um in den Käfig steigen zu können. Die Tür hinter ihr wurde zugeschlagen und mit einem schweren Schlüssel verriegelt. Bald hob der Pferch wieder vom Boden ab. In schwindelnder Höhe kam er schließlich schwankend zum Stehen.
»Seine Hoheit wird sich deiner in Kürze annehmen«, kündigte der Hauptjambus an, gab seinen Untergebenen einige unverständliche Anweisungen und verließ den Saal.
Jetzt war Pala allein, abgesehen von zwei Posten, die wie hölzerne Jambenfiguren reglos an den Wänden standen.
Auf einem engmaschigen Eisenrost kauernd, die Arme durch die Seitengitter gestreckt, starrte sie zum Fenster hin, von wo in Wellen das Gelärme aus dem Burghof hereinschwappte. Sie hatte Giuseppe vor Zittos Ölkesseln gewarnt, aber dadurch vielleicht auch seinen Wagemut gelähmt. Was würde er sich jetzt noch getrauen, um die Burg zu stürmen? Selbst wenn ihm die eigene Unversehrtheit nichts galt, würde er sie, seine kleine »Schwester«, doch kaum in Gefahr bringen wollen.
»Tozzo, du musst es schaffen«, flehte sie leise. Warum hatte er auch noch einmal durchs Turmfenster schauen müssen! So war er entdeckt worden und musste nun vermutlich vor einer Streitmacht Fünffüßiger Jamben fliehen. Wie sollte er da noch rechtzeitig seinen Auftrag erfüllen?
Drei Glockenschläge erhoben sich aus dem Rebellenlärm.
»Noch fünfzehn Minuten bis elf«, flüsterte Pala.
Nun trat Zitto auf den Plan. In der ihm eigenen Art – linkisch und den Kopf wie ein Buckliger gebeugt – stolzierte er in die große Halle. In der Hand hielt er ein zusammengerolltes Pergament. Sein nachtblauer Mantel wallte, die Buchstaben darauf blitzten im Kerzenlicht. Unter dem Käfig blieb er stehen, sein Mantel blähte sich ein letztes Mal und kam dann auch zur Ruhe.
»Sie hat verloren!«, rief Zitto zu seiner Urenkelin hinauf und reckte ihr die Faust mit der Schriftrolle entgegen. »Hier ist das Meister-Sonett. Vermutlich wollte Sie es stehlen, aber das ist Ihr nicht gelungen.«
»Wer kann das schon wissen?«, knurrte Pala.
»Was will Sie damit sagen?«
Einen Moment lang überlegte Pala, ob sie ihre Gedanken besser für sich behalten sollte. Tozzo wurde ohnehin gejagt. Silencias Schicksal lag in seinen zerbrechlichen Händen. Ja, dachte sie, der Zeitpunkt für die Wahrheit ist gekommen. Sie erhob sich im schwankenden Käfig, legte ihre Finger um die Gitterstäbe und blickte entschlossen zu dem Dichter hinab. Für sie
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